ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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4.

Fortsetzung der Folge meines Lebens.

Schlichting, Johann Ludwig

Speier vom 17ten März 1786.

Ich muste nun auch bald in die Schule gehen; ich lernte lesen und schreiben, und nicht lange, so fing ich schon an, Latein zu lernen, Nomina zu dekliniren und Verba zu conjugiren, u.s.f.

Als wir dann so mit einander in die Schule gingen, Du schon weiter warst, als ich, und mir so halfst, daß ich auch voran kommen soll; dann, wenn wir unsere Studirzeit geendigt hatten, so vergnügt miteinander spielten, oder sonst uns lustig machten und ergötzten; da waren's Sonnen-Freudetage, da waren wir Brüderfreunde!

Von diesem Zeitraume will ich einige Fälle erzählen, deren ich mich erinnern kann, und beleuchtende Züge für meinen Seelenzustand sind. Sie ereigneten sich in meinem siebenten und achten Jahre.

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Es waren ohngefähr unser zehn, die auf dem Dorfe, da wir wohnten, in der Schule die Lateinische Sprache lernen wollten. Der Schulmeister wußte nicht das Wesentliche von dem Ausserwesentlichen, das Nutzbare von dem Unnutzbaren, ja selbst nicht von dem Schädlichen zu unterscheiden. Die ganze Lehrmethode war mechanisch, und er gab sich wenig Mühe, seinen Unterricht gründlich zu machen, oder dem Kinde in den gehörten und gelernten Sachen Gründlichkeit zu verschaffen; in Strafen kannte er keinen Zweck, folglich auch keine Maaß, sie waren also, wie die Aufgaben, mehrentheils unangemessen.

Einmal machten wir einen oder den andern Fehler in die Aufgabe, Du wirst Dich dieses Falles noch erinnern können? lieber Bruder! es wandelte den guten Schulmeister die Lust zu strafen an; die, wie es schien, ihm sein einziges Mittel war, ihn einer bösen Laune zu entreißen, und die selbstgemachte, leere Kapritzen erzeugende Grillen zu vertreiben. Einige hatten einen Fehler, andere mehrere; einige hatten strafbarere, andere nicht so strafbare Fehler gemacht; einige waren fähiger, andere nicht so fähig; einige waren schon längere Zeit Schüler, andere nur erst Angänger. — Doch dieses zu betrachten, wäre ihm zu umständlich gewesen, und es war über seinen gewöhnlichen Gesichtspunkt. Alle mußten sich zur Ruthe bereit halten, und nun ging's an; die Ruthe stieg von der [89]älteren Haut auf die jüngere, und ich hatte das Vergnügen allen zuzusehen. Nun kam die Reihe auch an mich; aber ich hielt das Verfahren des Lehrers für unangemessen, zweckwidrig und unvernünftig; folglich für ungerecht. Nein, dieß thue ich nicht, Herr Schulmeister, sagte ich, die Strafe ist zu streng. Der Schulmeister, der von mir, als der ich immer einer der stillsten und folgsamsten war, diese Widersetzung nicht vermuthete, stutzte und sprach: Wie? nachdem alle andere geduldig ihre Strafe litten, so willst Du Dich widersetzen? Nur nicht lange gezaudert und gleich her. Ich war aber gleich gefaßt, und packte ganz gelassen meine Bücher zusammen; ging ohne ein Wort zu reden, ohne eine zornige oder saure oder lächerliche Mine zu machen, ganz stille zur Thüre hinaus. Doch machte dieses Verfahren des Schulmeisters solchen Eindruck auf mich, daß es mir, verbunden mit den Verweisen meiner Eltern, die freilich entweder nur anscheinend, aber doch nicht von vieler Bedeutung waren, die Lust beim Mittagessen benahm. Das Bewußtseyn und die Ueberzeugung hingegen von der Ungerechtigkeit des Schulmeisters und die daraus fließende Rechtfertigung meiner That gewährten mir wiederum die reinste Zufriedenheit.

Der Nachmittag war schulfrei; am Abend schon kam der Herr Schulmeister, versprach mich nicht zu strafen, ich soll nur wieder in die Schule [90]kommen. Schwer hielt es, mich auch durch dieses Versprechen zu bewegen, den Unterricht eines solchen Mannes anzuhören, und unter seinen Befehlen zu stehen. Doch er hielt wirklich sein Versprechen; denn er sahe meine Empfindlichkeit, ohne Eigensinn, Ungeduld, Zorn oder eine andere Leidenschaft begleitet; und vielleicht brachte ihn dieser Vorfall auch zur Kenntniß seiner unvernünftigen Behandlungen; mich wenigstens schonte er immer in einer minder wichtigen Sache.

Du wirst Dich noch wohl, mein Lieber! an das erinnern können, was ich eben erzählte. Doch darf ich hier eines Umstandes nicht vergessen, der den größten Theil meines thätigen Lebens von dessen Anbeginn mit der Note seines Gepräges bezeichnete, folglich auch an dem erzählten Vorfalle seinen Antheil hatte.

Kinder haben das stärkste Gefühl von Unrecht. Du wirst selbst schon von dieser Wahrheit überzeugt seyn, wenn Du Dich in die Gefühle Deiner Kindheit zurückdenkst, die sogleich durch den unbedeutendsten, misfälligen Ton, durch jede Behandlung oder einen anderweitigen Anlaß, der eben nicht zu rechter Zeit, und just, da das Köpfchen nicht gut gestellt war, kam, gereitzt wurden; da wird manches als Unrecht, als Beleidigung angeklagt, das freilich dieses nicht, sondern vielmehr das Gegentheil war, und nur nicht dem Eigensinne des kleinen Stutzköpfchen schmeichelte; den Au-[91]genblick sieht man das Mäulchen hängen, den andern schon wieder lachen; wie ein günstiger Umstand die trotzende Mine wieder aufheiterte, oder das beleidigte Köpfchen befriedigt ist.

In Hinsicht auf diese kindische Eigenheit hatte ich doch noch was Individuelles: Du weist, lieber Bruder, unsre Mutter hatte auch die Gewohnheit, ein Vergnügen darin zu suchen, wenn sie selbst Mitleiden in dem Gefühle eines Unrechts mit sich haben konnte; und dieses zu haben, schuf sie sich Unrecht, wo keines war, und machte unschuldige, gute, scherzende Handlungen zu boshaften Beleidigungen, die man nur verübte, um sie zu betrüben und zu schikaniren; einen Funken betrachtete sie schon als eine allgemeine verheerende Feuersbrunst; und Klage übers Unrechtleiden, mörderische Vorwürfe, die bittersten Thränengüsse und herzbeklemmendes Schluchzen waren ihr so süsse, daß sie dann nur glücklich zu seyn schien.

Versunken in den wesentvollsten Strom ihrer Empfindung fühlte sie die beruhigendeste Selbstzufriedenheit. Nur solche Empfindungen, begleitet mit den heftigsten Ausbrüchen von Thränen, verzehrten ihren Kummer; nur diese versüßten ihre Leiden; nur diese entladeten ihr Herz von seiner Bürde; Leiden war der Trost ihrer Leiden. Aber, nicht nur das Unrechtleiden war der Vorwurf dieser Leidenschaft, sondern auch jeder Anschein von Unglück, den sie gleich zur Ruin ihres Hauses in [92]ihrer Einbildung schuf. So klagte sie unaufhörlich über Schicksal, Noth, Dürftigkeit; redete immer von Umsturz ihres Hauses, von tödtenden Kummer, von Verzweiflung; wo sie freilich zuweilen nicht ganz Unrecht hatte, aber doch Gegenwart und Zukunft im schwärzesten Gemälde betrachtete. Wie viele Zeit brachte ich vergebens zu, wie viele Vorstellungen, wie viele Bitten waren fruchtlos, ihr die Sache in ihrer wahren Gestalt zu zeigen, sie von dem Ungrunde ihrer Klage zu überzeugen, sie zurechte zu weisen? Sich dem Schmerzgefühle überlassend antwortete sie mir nur mit denen Worten: »Wie? Du verschwörst Dich auch gegen mich, gegen Deine Mutter? mich zu martern, mich zu tödten? Geh' hin zu meinen Feinden, und laß mich, laß mich sterben.« Von seiner ganzen geäußerten Macht dahingerissen, war sie gegen alles Resonnement gefühllos und mistrauisch.

Und gewiß eben dies auszeichnende karakteristische Merkmal der Mutter pflanzte sich auf mich und auf uns alle, mehr oder weniger, fort: auf Dich am wenigsten; bei Dir waren noch nicht Gründe und Anläße genug da, daß sich diese eben so unglückliche als schrankenlose Leidenschaft dazumal in eben der Stärke, als nachher, äußern sollte; das Leichtsinnige Deines Karakters vermehrte noch die Schwierigkeit, dieselbe Leidenschaft bei Dir zu werden. Du weißt doch, daß ich und [93]alle unsre übrigen Geschwister außerordentlich geneigt zu klagen und zum Thränenvergießen bei der geringsten, unbedeutendsten Vorstellung waren, daß wir, oder die Eltern, oder sonst ein guter, unschuldiger Mensch unrecht leide. Ich weiß, wie beruhigend für mich war dieses Gefühl, und wie erquickend eine Thräne. Und um Ueberzeugung zu haben, denn oft war ich offenbar selbst auch Ursache des Unrechts, suchte ich alle mögliche Gründe auf, für die Wahrheit meiner Empfindung, und um die entgegengesetzte Gründe zu verdunkeln, zu entnerven. Eben dies thut auch unsre Mutter.

Jemehr ich an Belesenheit, Kenntniß und eigener Verstandseinsicht zunahm, destomehr sah ich das Lächerliche dieser Gewohnheit ein; suchte sie auszurotten, und vermogt' es nicht. Aber, mich ganz gegen Unrecht unempfindlich zu machen, hielt ich auch pflichtwidrig; und nun, wenn ich Unrecht zu leiden glaube, so erwäge ich die Gründe für und wider auf das genaueste, und schlage mich nachher gerne zum Uebergewicht; und wenn dieses auf meine Seite fällt, so habe ich Wochenlang zu arbeiten, bis die Betrübniß, die Selbstlast und der stille Kummer, die mein Herz und alle meine Sinnen bis zur Betäubung, zu dem schmerzhaftesten Gefühle dahinreißen, aus meiner Brust entweichen. Aber der Gedanke der Beleidigung wird nie aus meinem Andenken verlöschen; und mein Gemüth wird sich nicht ehe wieder der vollen Heiterkeit, und [94]mein Gesicht des muntern lächelnden Wesens freuen dürfen, ohne zuvor sich auch der Befriedigung für das gereitzte Gefühl mit freuen zu können; die zuweilen allein nur in des andern Bewußtseyn, mich beleidigt zu haben, bestehen kann; aber oft auch in der Versicherung vorkommenden Beleidigungen.

Dies Gefühl des Unrechtleidens steht in dem sonderbar auffallendsten Kontrast mit dem, eines widrigen Schicksals, oder, wie man's nennt, eines Unglücks; denn wahrhaft, kein Vorwurf kann mir gleichgültiger, meinen traurig tiefsinnigen Besorgnissen minder interessant seyn, als eine Versetzung in ein übleres Verhältniß; so lange noch der eiserne Zepter, der verfolgende giftige Dolch nur Verschlimmerung, Vergiftung äußerer glänzenden Verhältnisse zum Ziele haben, noch nicht die Seele angreifen, noch nicht Verachtung, Verunehrung, Beleidigung mit sich führen, dem Herzen noch nicht das Unschuldsgefühl und die Ueberzeugung der Unverdientheit, seine Freunde, rauben.

Soll ich nun sagen, ob das bei mir so prädominirende Unrechtsgefühl wirklich etwas Gutes oder nicht Gutes für den Menschen sei: Ich glaube doch mit gegründeterem Rechte im allgemeinen sagen zu dürfen, daß es kein Unglück für einen Menschen sei. — Ein Herz, das gefühllos und gleichgültig gegen jede Sottise ist, die ihm gemacht wird, ist ein Abscheu. Empfänglich für jeden Reitz des Guten und Bösen, der Billigkeit und Unbilligkeit, soll [95]es freilich nicht Laune, nicht Eigensinn seyn, sondern begleitet von den Regeln der Klugheit und Weisheit; begleitet von den Grundsätzen einer richtigen Imputation; begleitet von einer allseitigen Sach- und Menschenkenntniß; begränzt von Vernunft und Männlichkeit soll es seyn, dieses Gefühl. Aber wer Aufklärung seiner Selbst, Rechtschaffenheit und Selbstzufriedenheit lieb hat, der lasse es in sein Herz strömen, und fühle. Unglück ist dieses Gefühl, wenn es ohne jene freundschaftliche Begleiter, ohne jene Schranken fortwallt; und den begonnenen Paroxismus so forttraben läßt; wenigstens der Selbstruhe und dem behaglichen Zustand des Körpers nachtheilig.

J. L. A. Schl**.