ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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3.

Erinnerungen aus den ersten Jahren der Kindheit.

Schlichting, Johann Ludwig Adam

Speier am 29sten Jänner 1786.

Der Verfasser dieses Aufsatzes hatte von Jugend auf Lust an der Meßkunst; unauslöschlich haben [63]sich deswegen die Vorstellungen von Figuren und Größen im Gefilde seiner Kenntnisse abgedrückt; die aber mit der natürlichen Richtung seiner Seelenkräfte nichts ähnliches hatten, flogen vorüber; hieraus schließt er, daß nicht Lebhaftigkeit der Eindrücke Ursache ihrer Fortdauer in der Seele, sondern Uebereinstimmung mit dem ursprünglichen Karakter es wäre. Ich bin aber noch nicht überzeugt, daß ursprünglich die Seelenkräfte des Kindes zu einer Art der Dinge mehr gestimmt sind, als zur andern, sondern daß sie dieses erst durch Anlässe werden, und daß sie sich nach Verhältniß der vorkommenden Gegenstände und ihrer Eindrücke aufs Herze mehr oder weniger entwickeln, oder: das Kind empfand einmal ein Objekt sehr tief. Nun sind entweder viele von den folgenden Vorstellungen gleichartig, und gesellen sich zu der Vorhergehenden — schmiegen sich an sie an; und so bestimmen sie schon den Karakter des Kindes auf einen Punkt, daß nicht leicht heterogene Gegenstände sie aus dieser Lage verdrängen können; an diese aufgefaßte adsociirten Ideen erinnern wir uns nachher leicht wieder. Sind aber die folgenden Ideen ungleichartig, so sind sie stärker oder nicht; sind sie dieses, so bringen sie übrigens keine merkliche Sinnesveränderungen vor, man kann noch behaupten, es bleibe derselbe Seelenzustand — dieselbe Seelenrichtung; denn sie gleiten vorüber, und lassen kein Gepräg ihrer Existenz zurück; die [64]in dem Menschen dagewesene Modifikation der Seelenorganen dauert fort im ersten gerührten Tone, bis entweder zu viele, obgleich minder lebhafte Vorwürfe sie verwirren, dann verdunkeln, dann vernichten; sich selbst als Tirannen der Seele und ihrer Stimmung eindrängen, oder bis ein anderer gleichartiger kömmt — und denselben Seelenzustand befestiget; wenn aber die ungleichartigen Eindrücke stärker sind — so muß nothwendig die Wirkung dieser überlegenen Kraft diese seyn, daß sie die alten Besitzer (sind sie noch nicht zu alt und haben sie sich dem ganzen Menschen noch nicht zu nothwendig und wegen verschiedener Gründe zu interessant gemacht) vertreiben — sich ihrer Stelle versichern — und nun mit dem nehmlichen Rechte und vielleicht wieder mit der nehmlichen Gefahr die Regierung der Seele führen.

Folge meines Lebens in einem Schreiben an meinen Bruder:

Wie oft, lieber Bruder! dachte ich schon, wie oft denke ich an Dich, wie es Dir gehe, was für ein Verhältniß Dir das Schicksal bestimmt habe? Wie so oft schon erfüllte der innige Wunsch mein Herze? Möchte ich Dich noch einmal sehen, Dich noch einmal in meine Armen einschließen, noch einmal bei Dir die Bruderliebe in ihrer thätigsten Aeußerung, in ihrer wärmsten Gluth fühlen! Aber wann wird der Moment der Befriedigung aller die-[65]ser herzlichen Wünsche mein Leben bestrahlen? wann werde ich mit freudiger Stimme ausrufen können? Du hast Deinen Bruder wieder!

Aus einem Briefe erfuhr ich den Ort Deines Auffenthalts und Deiner Beschäftigung. Erwarte nicht von mir, daß ich etwas gegen diese sagen werde. Nein, Bruder! ich sage Dir, daß Du in Deinem wirklichen Verhältnisse so glücklich seyn, so glücklich werden kannst, als in jedem andern; denn was ist Glück anders, als Zufriedenheit? Zufriedenheit erhälst Du freilich durch die Befriedigung Deiner Begierden, und dauerhafte wahre Zufriedenheit nur durch Befriedigung vernünftiger Begierden; eine andere ist das Vergnügen eines Moments, der zehntausend folgende vergiftet. Wahre Zufriedenheit kannst Du immer haben, lieber Bruder! verbinde nur Weisheitkenntniß Deiner Umstände mit der Wahl Deiner Begierden, und Klugheit mit der Wahl der Mittel zur Befriedigung derselben. Siehst Du die Unmöglichkeit der Stillung eines oder des andern Verlangens; so leide den Mangel, dulde ihn! ersetze ihn durch die Gewährung eines schätzbarern, größern, das mehr zur Vervollkommung Deines Zustandes beiträgt, oder Dir einen stärkern Drang in Deiner Seele macht. Nur wähle immer das, was Du nach allen Verhältnissen für Dich als das Beste erkennst; dann bist Du glücklich, und noch in der irrdischen Hülle empfindest Du einen Himmel voll Wonne. [66]Siehest Du, daß Du also in Deinen wirklichen Umständen nicht glücklich sein kannst, so dringe weiter; suche Mittel, angemessene Mittel, sichere Rettungswege auf; arbeite an der Erreichung eines besseren glücklicheren Zustandes; arbeite standhaft, unabläßig; und Du wirst fühlen, daß der Mensch immer Kräfte genug hat, sich glücklich zu machen, denn dies ist der große Zweck unsers Daseyns; und der uns dieses Daseyn gab, und mit ihm diesen Zweck verband, mußte der also nicht auch uns zuverläßige, hinreichende, richtige Mittel in unsere Natur legen, durch welche wir ohnfehlbar diesen erhabenen Endzweck des großen Weltalls erreichen können? und diese Mittel kann wirklich der Mensch in jeder Lage haben; dieß beweiset Erfahrung und Vernunft.

Ich will Dich nur, Lieber! an unsere Jugend ein wenig erinnern, und Dir etwas von meinen individuellen Revolutionen erzählen; Du wirst bald einsehen, wie wahr ich geredet habe.

Welch himmlisches Gefühl durchströmt mich; wenn ich in die goldenen Tage unser Jugend; unserer Kindheit zurückschaue. Zuverläßig, Bruder! sind dies die glücklichsten Tage des Menschenalters. Wie schuld- und kummerlos wandelt man da die Gotteswelt dahin! Jeder Schritt ist mit Blumen gestreut, und jeder Weg ist uns ein Weg ins Paradies. So zufrieden, jedes Leidens ohnbewußt, und so eingeschränkt für den gegenwärtigen Hori-[67]zont, liebten wir einander, und dachten ewig beisammen zu bleiben, ewig dieselben Freuden, dieselbe jugendliche Wonne beisammen Hand in Hand zu theilen.

Denke ich, wie froh wir in des Vaters Hause, an des Vaters Tische so noch ungetheilt beisammen waren; wie Familienfreuden uns von des Vaters, von der Mutter Hand zuströmten; als noch Bruder und Schwester und Aeltern so auf einem Häufchen sich einander gut wollten; Liebe einander in den Busen hauchten; jedes sich so seelig im Zirkel seiner Familie fühlte; da, da wird die künftige Scene ein Trauerspiel, und Zähren, denen nie wiederkommenden Freuden geweinet, benetzen sie.

Wir waren unserer neun, denen allen die Verdienste ihres guten alten geplagten Vaters, und die Sorgen und die Liebe der zärtlichen kummervollen Mutter nicht unbekannt waren. Wir sahen die Noth unsers Hauses, und die unermüdete Thätigkeit unserer Aeltern; wir waren zu schwach, um ihrem und unserm Elende Linderung zu verschaffen. Nur der Gedanke konnte unser Antheil seyn: Gott! was gute, redliche Aeltern! was sie da alles für uns thun! und was sie alles in der Stille in ihrer Brust für uns leiden! und doch auch, Bruder! wie oft verlohren sich diese gute Gedanken, just da, wo sie hätten wirksam seyn sollen; setzten das Köpfchen auf, und machten ihnen so manchen kummer-[68]vollen Augenblick? O Reue und Schmerzen ergreifen mich, über jeden ihnen verursachten Verdruß, über jede ihnen verdrießliche Miene!

Nun werfe ich dann auch einen forschenden Blick auf unser goldenes Alter zurück. Wie erinnere ich mich noch mit so vieler Wonne der unvermischten Freuden, die wir in unsern Kinderspielen hatten; des kleinen lieben Kämmerchens; des schönen Gartens; des sanft dahinrieselnden Baches, und der grünen Wiese, gerade gegenüber! wie lebhaft stehet mir noch des Nachbars Haus und die Gemälde an der Aussenseite desselben da; diese letztern hinterließen in meiner Vorstellung einen unauslöschlichen Abdruck, als ich meinen Geburtsort mit einem andern Auffenthalte umtauschte; so oft ich wieder dahin kam, war mir ihr Anblick jedesmal ein wahres, inniges Vergnügen, das mein ganzes Nervengefühl auf einen Punkt drängte; zu der Idee dieser Gemälde die Ideen meiner ganzen verflossenen Kindheit adsoziirte; und das wiederum den Strom jener seeligen unschuldigen Empfindungen in meine Seele mit verjüngter Stärke goß. Wie so voll Reitze und Liebe ist mir noch der Gedanke an den Herbsttumult, an die Geschäftigkeit der Bauren, an das wimmelnde hallende Feld; der schöne Anblick des erhabenen, schattigten Gebirges; überhaupt, die Anmuth, die mannichfaltigen ergötzenden Abwechslungen der Gegend, und das sanfte Landleben, dessen Reitze und Kostbar-[69]keiten wir mit so vielem Gefühl und gemeinschaftlicher Theilnehmung betrachteten, genossen.

So weit mein Blick meine und unsere Jugend verfolgen kann — und alle die Zufälle, die sich mir noch auf dem Hinblick in die verflossenen Freudenjahre offenbaren, will ich Dir, lieber Bruder! vorlegen; denn sie mögen allenfalls einem Menschenforscher interessant seyn.

Ueber vier Jahre weiß ich mich nicht einer einzigen Begebenheit zu entsinnen, und just war ich vier Jahre alt, als die letzte Theurung a in unsern Gegenden einfiel ; mit dieser Epoche fängt mein Bewußtseyn an. Der Blick in diese Zeiten erfüllt mich mit Grauen und Schauer, und mein Gefühl zerfließt in dem Elend der Leidenden. Ich will, was mir da mein Bewußtseyn noch entdeckt, anzeigen; die Deutlichkeit, in der folgende Begebenheit meinem Gedächtniß noch inne ist, und mit welcher ich sogar die gesprochenen Worte und die geringsten Umstände, die die Sache begleiteten, deren aller Detaillirung aber die Erzählung freilich zu weitläufig machen würde, hererzählen kann, beweißt den Eindruck, den dergleichen Fälle auf mein Gefühl machten; zugleich auch die vorzüglichste Stimmung und Richtung meines Karakters; und welcher Art von Theilnehmung mein Herz am empfänglichsten ist; und giebt schon Aufschluß zu meinen folgenden Lebenszügen.

[70]

Zu der Zeit jener Theurung waren's unser drei; Du, lieber Bruder! warst ein Jahr älter als ich, und N.. ein Jahr jünger. Oft da wir so beisammen sassen, erzählte uns unsere Mutter von dem Elende, welches die Theurung so weit herum verbreitet; wie die Armuth schmachtet, wie der laute Jammer der Nothleidenden den weiten Himmel durchdringt, wie die Thräne sich von der Mutterwange auf den Säugling ergießt, der an der leeren Brust nach Nahrung winselte; wie der Vater über den Anblick seiner siechen Familie gerührt, dann verzweifelnd, für ihre Rettung Schande, Gefahren und Tod trotzt. Wir hörten zu, aber wir selbst empfanden dies unglückliche Schicksal damals zu wenig, als uns es in seiner ganzen Größe vorzustellen.

Meine Mutter ließ keinen, der um etwas bat, ohngetrost hinweggehen; ja zuweilen überschritt sie die Gränzen der Wohltätigkeit, und gab in ihrem mit fühlenden Paroxismus alles hin, was sie aufbringen konnte. Wir mußten also nachher selbst Mangel empfinden, wir litten aber den Verlust gerne; denn Begierde, das Leiden des Bruders zu lindern, Mitgefühl und Empfänglichkeit für Vergnügen an dergleichen uneigennützigen Handlungen, waren für uns doch schon Wirkungen ihres Beispiels und ihrer Lehre. Einmal ging ich vor die Thüre meines Hauses; der Tag war schön, und es kam eine Frau vor die Hofthüre, die um ein [71]Allmosen bat; geschwind lief ich zur Mutter und sagte ihr's; sie kam und sahe, daß es eine Jüdin war; wie, eine Jüdin? sagte ich zu ihr, fordern und nehmen denn die Juden auch was von Christen an? ich hörte ja immer, daß alles koscher seyn müsse, was sie essen und trinken. Gutes Kind, war die Antwort der Mutter, siehst Du jetzt, was die Noth vermag? ohne diese würden sich die Juden lieber das Leben nehmen lassen, als etwas, das nicht koscher ist, essen. Nun sind sie so froh, wenn ein Christ sich ihrer erbarmt, und ihnen ein Stückchen Brod oder sonst was reicht; Du wirst sehen, was diese Frau für Freude hat, wenn ich ihr was gebe. Jetzt ging sie hinein, was zu hohlen; die Jüdin hatte ein unmündiges Kind auf den Armen, dessen erbärmliches Winseln jedes Mitleiden erweckte; die deutlichen Spuren der Dürftigkeit erblickte man ausserdem schon auf seinem und seiner Mutter Gesichtszügen. Meine Mutter kam mit einem Löffel voll Mehl, einem Tuch voll Grundbirnen und einem Stück Brod zurücke; bei dem Anblicke dieser Gaben hüpfte vor Freuden ganz ersichtlich das Herz der guten Jüdin; sie war stumm, sahe bald mit einem flüchtigen, aber fühlenden Auge auf meine Mutter, bald auf das Allmosen, und bald auf ihren entkräfteten Säugling; nahm's mit pochendem Herzen, mit zitternder Hand, mit sanften stillen Thränen und lächelndem Munde zu sich, was man ihr darbot; durchdrungen von inni-[72]gem Dankgefühl wollte sie reden, sie konnte nicht. Meine Mutter, gerührt durch diese pantomimische aber kraftvolle und betäubende Scene, gab ihr noch etwas Geld, verließ sie, um die theilnehmende unwiderstehlich hervorgelockte Thräne zu verbergen, und dann sie durch ein himmliches Gefilde von wonniglichem, göttlich durchströmenden Vergnügen hinfließen zu lassen. Für mich waren dieses Empfindungen, die die ersten ihrer Art waren und mich nun ausser der wirklichen Lebenssphäre versetzten; erstaunend sah ich dem ganzen Vorfall zu; ich fühlte mit Elend und Freude; ich weinte mit, und erkannte die süssen Früchte des Wohlthuns, die Würde des Menschen, und das täuschende vorgefaßte Vorurtheil gegen einige Menschensorten schon itzt in meiner ersten Kindheit. Unvergeßlich, in seiner Freudenquelle unversiegbar, bleibt er mir immer dieser herzliche Eindruck mit der lebhaftesten Vorstellung aller erwähnten Umstände, so wie er mir's immer vom ersten Moment seiner Geburt bis itzt unverstörbar geblieben ist. Mein Lieber! wie sehr wünschte ich, daß auch Du das alles mit angesehen hättest! Du würdest auch mit das fühlen müssen, was ich nun so ganz in die Fülle selbstgenügsamer Seeligkeit versunken fühle, und könntest vielleicht Dir ein Maaß denken, das die Gränzen meines Gefühles annähernd zu bestimmen vermag.

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Die spätern, auf den vorerwähnten Fall, folgenden Eräugnisse bis zu meinem achten Jahre will ich verschweigen, denn sie sind alle zu sehr gemischt und verworren, mit Nebensachen und mehreren fremden Leidenschaften verbunden; um eben etwas mehr als die blosse und aus dem Zirkel der Umstände herausgerissene Sache, und die nur halb und einseitig, erzählen zu können; der Zweck und dessen Erreichung würde denn vermißt werden müssen.

Die Fortsetzung, die freilich schon mehr interessante Seelenkaraktere enthalten wird, werde ich Ihnen bald nachschicken.

J. L. A. Sch***.

Erläuterungen:

a: Der siebenjährige Krieg hinterließ eine wirtschaftliche Katastrophe. Hohe Getreidepreise trieben viele in den Hungersnot. Vgl. Erl. zu II,1,45.