ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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6.

Auszug aus einem Briefe. a

Goens, Rijklof Michael van

Haag den 15ten December 1785.

So eben habe ich in einer müssigen Stunde den *** Band der Berlinischen Bibliothek durchgelesen, b und finde darin einen Auszug von ihrem Werke, das den Titel führt: Magazin

Dieser Auszug ist weitläuftig genug, um mir eine vollständige Idee von ihrem Plane zu geben.

Es ist immer mein Steckenpferd gewesen, Beobachtungen über mich selbst, über Kinder, über Träume, über Wahnwitzige, u.s.w. anzustellen. Allein meine geschäftsvolle Situation im Leben hat mir nicht verstattet, mich anders als im Vorbeigehn, mit dergleichen Gegenständen zu beschäftigen. —

Indes ist dieß bis jetzt noch ein unbedeutendes Feld gewesen, zu dessen Kultur fast ein jeder beitragen könnte, und doch bis jetzt nur sehr wenige beigetragen haben. —

Bonnet hat angerathen, Träume zu beobachten, c und diejenigen bekannt zu machen, welche zur nähern Kenntniß der Seele beitragen könnten — Ein Arzt in Mietau d hat Beobachtungen über Narren und Wahnwitzige angestellt — Herr Tiedemann hat interessante Versuche über den Menschen bekannt gemacht, e und ein andrer hat ein Buch über Ahndungen herausgegeben. f

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Aber dieß alles hat nur entferntere Aehnlichkeit mit meinem Plane, Materialien zu einer Experimentalseelenlehre zu sammlen, mit welchem der Ihrige völlig übereinstimmt. —

Ich habe daher keinen Augenblick gezaudert, und sogar die Nacht zu Hülfe genommen, um Sie zu der Fortsetzung eines Unternehmens zu ermuntern, das mehr als Luftbälle, Magnetismus, und zwanzig andre Thorheiten mehr, in der Geschichte unsres Jahrhunderts Epoche machen kann, wenn sich die Aufmerksamkeit darauf hinlenkt.

Wie sehr wünschte ich, in einer Lage zu seyn, die mir Muße genug übrig ließe, um Ihnen zu beweisen, wie wichtig mir Ihr Unternehmen ist.

Alles aber, was ich für jetzt thun kann, ist, daß ich in der Eile, zwei oder drei Erfahrungen niederschreibe, die aus der Menge von Faktis, welche ich beobachtet habe, gerade die ersten sind, die sich meinem Geiste darstellen. —

van Goens.

Sonderbare Aeußerung der Gedächtnißkraft im Traume.

Goens, Rijklof Michael van

In meinem eilften Jahre besuchte ich die lateinische Schule zu Utrecht, wo in der Klasse, in welcher ich saß, eine gewisse Rangordnung unter den Schülern statt fand, die sich nach dem jedesmali-[89]gen Beruf des Fleisses und der Aufmerksamkeit richtete, und sich also oft veränderte.

Dasjenige, worin man wetteiferte, waren bald lateinische Exerzizien, bald Lektionen zum Auswendiglernen u.s.w., und unter andern auch Fragen, welche grammatikalische Regeln oder lateinische oder griechische Phrasen betrafen, und von dem Lehrer zuerst an den obersten, und wenn dieser sie nicht beantworten konnte, an den folgenden, u.s.w. gethan wurden; welcher denn die Antwort wußte, wurde über denjenigen gesetzt, der sie nicht gewußt hatte.

Nun träumte mir einstmals, daß ich mich in der lateinischen Klasse befand; daß der Lehrer eine Frage über den Sinn einer lateinischen Phrases aufwarf, und daß ich gerade der erste in der Reihe war, und den festesten Vorsatz bei mir empfand, diesen Platz, wo möglich zu behaupten.

Da mir aber nun die Frage wirklich vorgelegt wurde, blieb ich stumm, und zerbrach mir vergebens den Kopf, um die Antwort darauf zu finden.

Ich sahe denjenigen, der nach mir saß, Zeichen der Ungeduld von sich geben, um befragt zu werden — ein Beweiß, daß er die Antwort wußte. —

Der Gedanke, an diesen meine Stelle abtreten zu müssen, setzte mich beinahe in eine Art von Wuth; aber ich suchte vergebens in meinem Kopfe [90]nach; und konnte den Sinn der Phrases auf keine Weise herausbringen.

Der Lehrer ermüdete endlich, mir länger Zeit zu lassen, und sagte zu dem Folgenden; nun ists an dich.

Und der Schüler setzte sogleich den Sinn der Phrases deutlich auseinander, und diese Auseinandersetzung war so einfach, daß ich gar nicht begreifen konnte, wie ich nicht darauf hatte verfallen können. —

Es erhellet, glaube ich, schon aus der einzigen Erzählung dieses Traums, daß ich von meiner frühesten Jugend an, einen Hang gehabt haben müsse, mich selbst zu beobachten, weil ich beim Erwachen über diesen dem Anschein nach simpeln, und doch in der That fast unerklärbaren Traum, so frappirt war, daß er mir nachher immer lebhaft im Gedächtniß geblieben ist. — Ohne daß ich, nach einen Zwischenraum von sechsundzwanzig Jahren, im geringsten mehr als damals, im Stande bin zu begreifen, wie die Seele, welche mit der größten Anstrengung vergebens etwas suchet, in einer Minute oder vielmehr in einer Sekunde, die Seele werden kann, die eben dieselbe Sache sehr gut weiß, indem sie sich zugleich einbildet, es selbst nicht zu wissen, sondern es eine andere sagen zu hören.

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Dergleichen Träume sind aber weit gewöhnlicher, als man glaubt, weil man seine Aufmerksamkeit nicht darauf richtet. —

Mehr als hundertmal habe ich im Traume Briefe gelesen, und empfangen, worin, wie ich mich beim Erwachen erinnerte, Neuigkeiten enthalten waren, in denen nichts Unzusammenhängendes war, und welche, ob sie schon falsch waren, doch auch eben so gut hätten wahr seyn können, ohne daß ich wachend daran gedacht, oder sie erdacht hätte.


Unempfindlichkeit gegen ihren Zustand bei Wahnwitzigen.

Goens, Rijklof Michael van

In Werthers Leiden heißt es von einem verrückten Menschen, daß er sich der Zeit, in welcher er an Ketten gelegen hatte, immer noch mit Vergnügen erinnert habe, es sei ihm da so wohl gewesen, wie dem Fisch im Wasser. g

Ich habe einige Jahre lang das Oberaufseheramt über alle Zuchthäuser in der Stadt, und dem Territorium Utrecht gehabt.

Bei dieser Gelegenheit hatte ich verschiedne Jahre lang ein Mädchen von vierunddreißig bis sechsunddreißig Jahren beobachtet, die so rasend war, daß man sie nackend lassen mußte, weil sie alle Kleider sogleich zerriß.

[92]

Ich habe dieß arme Geschöpf, welches schon nichts als Haut und Knochen war, mehr als hundertmal, nackend auf dem Stroh liegen sehen, in einer Kammer, die nichts als ein eisernes Gitter hatte, wodurch das Licht hereinfiel, und ohne Fenster war, weil sie die Fensterscheiben, so wie alles Zerbrechliche, sogleich zerbrach. —

Eines Tages besuche ich das Haus, und bemerke an der Person, die mich hereinläßt, eine Physiognomie, die mir zwar bekannt vorkam, aber deren ich mich doch nicht deutlich erinnern konnte.

Es war ein wohlgekleidetes, ehrbares, starkes und gesundes Mädchen, welches mich auch zu kennen schien. Indem ich das Haus untersuche, frage ich den Herrn, wo er seine neue Magd, die ich mich anderwärts gesehen zu haben erinnerte, herbekommen habe.

Ihr mögt sie freilich wohl oft gesehen haben, mein Herr, gab er zur Antwort — und ließ mich weiter nachsuchen, bis er mich endlich der Unglücklichen auf den Stroh erinnerte — »Es sind nun drei Monathe, sagte er, daß sie völlig wieder hergestellt ist. — Etwas Niedergeschlagenheit, die ihr noch übrig geblieben ist, ausgenommen, hat sie wieder ihre gesunde Vernunft, so gut, als einer sie haben kann. — Ich wollte ohnedem von ihr Bericht abstatten, weil sie auf die Probe gestellt werden kann, um sie wieder loszulassen.«

[93]

Ich befriedigte darauf meine Neugierde, dieser Person eine Menge Fragen über ihren vorhergehenden Zustand zu thun, und hörte verschiedene Dinge von ihr, welche von der Art sind, daß ich sie nie offenbaren werde.

Es gehen mit rasenden Menschen so außerordentliche Sachen vor, daß wenn man mehrere bestätigte Erfahrungen von der Art hätte, die sonderbarsten Folgen daraus gezogen werden könnten.

Unter andern aber befragte ich sie, wegen der physikalischen Empfindung, die sie in Ansehung ihres Zustandes gehabt hatte. — Und sie gab mir zur Antwort, daß sie sich vollkommen erinnerte, nie die geringste Empfindung von Kälte, oder sonst einer Ungemächlichkeit gehabt zu haben, ausgenommen bei Gewittern, wo sie viel Schrecken und Angst ausstand, und sich allemal tief ins Stroh verbarg, oder in einen Winkel kroch.

Kurz der sieben oder acht Jahre, die sie in diesem Zustande zugebracht, erinnerte sie sich wie im Traume, aber doch im Ganzen genommen mit mehr angenehmen, als unangenehmen Empfindungen.

So wahr ist es, daß es, sowohl von Seiten der physikalischen Empfindlichkeit, als von Seiten der Moral selbst, in den Situationen, die uns oft am schrecklichsten vorkommen, Schadloßhaltungen giebt, die bewundernswürdig sind.

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Erinnerung aus den Jahren der Kindheit.

Goens, Rijklof Michael van

Sie erwähnen eines Herrn Fischers, der sich des Hauses seiner Eltern erinnerte, aus welchem er im dritten Jahre gegangen war.

Eine meiner Rückerinnerungen aus den Jahren meiner Kindheit, ist um die Hälfte früher, und was den Gegenstand anbetrift stärker, weil ich in dem Hause, dessen ich mich erinnere, nur einen einzigen Tag zugebracht habe.

Meine Anverwandten besuchten nehmlich, da ich noch in den Armen meiner Wärterin getragen wurde, oder am Gängelbande ging, einen Freund, der zwei Meilen von der Stadt ein Haus bewohnte, woran er durch seine Bedienung gebunden war.

Man nahm mich mit dahin, und dieser Umstand aus meiner Kindheit, ist meinem Geiste unter allen am meisten gegenwärtig geblieben.

Ich weiß, daß die Reise zu Wasser in einem kleinen Boote geschah, woran das Thau, das durch ein Pferd gezogen wurde, unterwegens riß, und wir dadurch in einige Gefahr geriethen.

Ich erinnere mich an das kleinste Lokale des Hauses, wo man mich herumgeführt hatte; an eine Art von Fischteich hinterm Hause, und dergleichen mehr.

Ich weiß gewiß, daß ich während der Zeit nie in dem Hause gewesen war, als ich nach drei-[95]ßig oder einunddreißig Jahren, einen Freund besuchte, der damals das Haus bewohnte.

Das Zimmer, worin er mich aufnahm, erkannte ich nicht mehr, ob es gleich dasjenige war, worin man vor dreißig Jahren gespeiset hatte. Vermuthlich hat man mich damals, weil ich noch auf den Armen getragen wurde, während dem Essen fortgeschickt.

Es war vorzüglich der Hintertheil des Hauses, und das Wasserbehältniß, das ich mir lebhaft vorstellte; vielleicht wegen des Vergnügens, das ich gehabt hatte, Hechte lebendig fangen zu sehen.

Dieß bewog mich, meinen Freund zu bitten, daß er mich sein Haus möchte ganz durchgehen lassen, ohne mir etwas zu sagen, weil ich meine besondere Ursache dazu hätte, alles allein sehen zu wollen. Er ließ mir meinen Willen: und ich fand wirklich alles Innere auf das genaueste meiner Erinnerung gemäß.

Freilich mutatis mutandis; das heißt: das Verhältnis der Größe der Gegenstände ausgenommen; denn alles kam mir jetzt viel kleiner, wie damals vor, welches auch sehr natürlich ist. —

Ich habe mich nachdem sorgfältig nach der Zeit erkundiget, in welcher mein Anverwandter diese Wohnung verlassen hat — und es hat sich befunden, daß ich zu der Zeit noch nicht zwei Jahr, [96]und also bei dem Besuch, den wir bei ihm abstatteten, ohngefähr anderthalb Jahr alt gewesen seyn mag.

Van Goens.

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag s. Goldmann 2015, S. 87-92, 95f.

b: Allgemeine deutsche Bibliothek 59 (1784), S. 141-147.

c: Bonnet 1770/1771, Bd. 2, S. 267.

d: Berichtigt MzE VIII,3,101 zu "Arzt in Mayland".

e: Tiedemann 1777/1778.

f: Hennings 1777-1783.

g: Goethe 1774, Bd. 2, S. 165.