ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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II.

<Liebeskrankheit.>

Anonym

Ich war ein Jüngling von ** Jahren. In meinem **ten verliebte ich mich in ein reizendes, tugendhaftes und äusserst verständiges Frauenzimmer. Nur sechs Monate sah ich sie, dann ward sie wieder 50 Stunden von mir entfernt und ich bekam aus Betrübniß ein hitziges Gallenfieber. Nach meiner Genesung blieb meine Liebe, sie wurde sogar täglich stärker. Noch ein halbes Jahr war ich an dem Orte und dann zog ich auf die Akademie. Auch hier blieb mein Mädchen in meinem Herzen ein ganzes Jahr und etwas drüber. Ohnerachtet ich von Natur sehr stark zur Wollust geneigt war und jeder volle Busen mich in Wallung brachte, so ließ ich mich doch nie hinreissen, aus Liebe zu meinem Mädchen. Einmal hatte ich sie fast auf etliche Stunden vergessen, da ich mit einem Frauenzimmer Abends allein in einer Laube war. Unsre Vertraulichkeit war stark gestiegen und eben sollte sie den höchsten Grad erreichen, als das Mädchen, das ich im Arme hatte und die um meine Liebschaft wuste, ausrief, nun gute Nacht Louise! Das alberne Ding! unpolitischer hätte sie nicht verfahren können, denn ich kam in den größten Affekt, stieß sie zurück, und entfernte mich eilends. Ich war äusserst aufgebracht über mich selbst, und hätte fast den größten Narrenstreich, den ein Mensch begehen kann, begangen. — Meine Liebe wurde jetzt nur stärker. [105]Zwar war ich in Gesellschaft und zu Hause meist munter und lustig, aber doch hatte ich auch oft Stunden, wo ich vor Sehnsucht nach meinem Mädchen fast verging. Den 18ten März eben dieses Jahrs fiel eigentlich die Begebenheit, die ich für merkwürdig halte, vor. Ich war ausgelassen lustig — so daß sich auch meine Freunde, die mich nie so gesehen hatten, äußerst verwunderten. Um 5 Uhr Abends war mirs, als zupfte mich was, ich sah herum; in der Stube war nichts, aber in meiner Seele stund mein Mädchen vor mir, halb nackt, lachte und schabte mir, wie man zu sagen pflegt, ein Rübchen. Nun weiß ich fast gar nicht, was eine halbe Stunde lang um mich vorging! Hernach fiel ich in die tieffste Traurigkeit — alles war mir verhaßt — auf einmal wurde mirs leicht, und ich konnte weinen, wuste aber nicht warum. — Drauf kam wieder ein Schauer — und der Gedanke — sie ist gefallen! — Ich setzte mich hin und schrieb —

Den 18ten März!

Ahndung — schauerliche fürchterliche Ahndung! heute nach fünf Uhr ist Louise gestorben — tod für mich! — bald kommt die Todtenpost —

Hierauf ward ich ruhig. — Am andern Tag kam meine vorige Heiterkeit wieder — ich las den Zettel und lachte darüber. Aber — das Mädchen [106]war aus meiner Seele — ich konnte, ich mochte nicht an sie denken!

Ich bekomm einen Brief von einem Freunde! Siehe da, meine Ahndung ist eingetroffen. Und grade als wenn mein Freund gewust hätte, daß ich so eine Ahndung hatte. Er detaillirte alles. Tag und sogar Nachmittags —— jetzt ist das Mädchen ganz aus meiner

Seele. — Ich, der ich sie so zärtlich, ich möchte sagen 1 1/2 Jahr ganz rasend liebte, trauerte gar nicht, ärgerte mich gar nicht? — Gern wolt' ich Ihnen den Ort meines Aufenthalts und meinen Namen beisetzen aber —