ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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II.

Erinnerungen, aus den ersten Jahren der Kindheit.

Anonym

Wenn ich in die ersten Jahre meiner Kindheit zurückgehe, so finde ich, daß ich mich vieler da-[43]mals vorgefallenen Begebenheiten, noch so deutlich erinnern kann, als wenn sie erst vor wenig Wochen geschehen wären, ich bemerke aber dabei,

1) daß die Erinnerung solcher Dinge, die unmittelbar mich selbst betrafen, lebhafter in mir ist, als solcher, die mich nicht eigentlich angingen, ob ich gleich dabei mit intereßiret war;

2) daß die unangenehmen Vorfälle mehrentheils einen stärkern Eindruck auf mich gemacht haben, als die angenehmen, ich mich auch der erstern weit lebhafter, als der letztern zu erinnern im Stande bin, wiewohl auch das Andenken an diese nicht ganz verloschen ist.

Zu denen Begebenheiten, deren ich mich aus den ersten Jahren meiner Kindheit noch sehr lebhaft erinnere, gehören unter andern folgende:

Mein Vater hatte mir befohlen, nichts anzurühren, was mir nicht gehörete, weil ich als Kind die üble Gewohnheit hatte, fast alles zu zerbrechen, was ich in die Hände nahm. Nun hatte ich als ein Kind von 5 Jahren meinen Vater mit einem Rostral Linien ziehen, gesehen. Kaum wandte er den Rücken, als ich mich des Rostrals bemächtigte, zuerst Linien damit zog; hierauf versuchte, ob man das Instrument auch wohl zerbrechen könnte, und es auch wirklich zerbrach. Ich wuste, daß hierauf einige Strafe erfolgen würde; dieser zu entgehen kroch ich unter einen, in meines Vaters Stube, gegen der Stubenthür über stehenden runden, mit [44]einem blauen Vorhang behangenen Tisch. Das half aber nichts, und ich erhielt für meinen Muthwillen und Unfolgsamkeit die nöthige Züchtigung. Diese Begebenheit ist mir noch so neu, daß ich mich auch aller dabei vorgefallenen Nebenumstände sehr wohl erinnere. — Ferner: Meine Schwester, auf die ich schon als Kind sehr viel hielt, bekam in ihrem 4ten Jahre die Pocken, und ich war damals 7 Jahr alt. Sie wurde bei dieser Krankheit auf einige Zeit blind, und verlangte ihr Spielzeug. Meine Mutter, die sie im Mantel trug, gab ihr einige Stücken. Da sie aber versicherte, daß sie es nicht sehen könnte, antwortete ihr meine Mutter; ja, das glaube ich wohl, du armes Kind, daß du es nicht sehen kannst, du wirst aber bald wieder sehen lernen. Ich erinnere mich dieser Worte noch so lebhaft, als wenn ich sie erst heute gehört hätte; ja ich weiß noch den Ort in der Stube, wo sie gesprochen wurden, obgleich seitdem schon ein Zeitraum von 24 Jahren verflossen ist, und seit dieser Zeit nicht wieder davon geredet ist. — Weiter: Ich war noch nicht 6 Jahr alt, da ich an einem gewissen Sonntage zur Winterszeit mit in die Kirche gehen mußte. Es war sehr kalt, und der Prediger predigte so sehr lange, daß ich mit Verlangen auf das Ende der Predigt hoffte. Die unangenehmen Empfindungen, die ich dabei hatte, müßen einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht haben, daß mir der Umstand unvergeßlich geblie-[45]ben ist, denn diese (wenigstens nach meiner damaligen Empfindung) lange Predigt, fällt mir allemal wieder ein, so oft ich die Kanzel sehe. — Noch erinnere ich mich aus den ersten Jahren meiner Kindheit sehr lebhaft der Art und Weise, wie ich mich damals im Schreiben übte. Im 5ten Jahre sollte ich schreiben lernen, und es war meine Lieblingsbeschäftigung, wenn ich den ganzen Tag die Buchstaben mit dem Finger auf der Erde im Sande mahlen konnte. Ich weiß noch die Stelle in der Stube, die ich, um keinem in Weg zu kommen, zu dieser Beschäftigung besonders wählte. Noch einesUmstandes will ich, in dieser Absicht, gegenwärtig nur gedenken. Ich war in meiner Kindheit ausserordentlich furchtsam. Dies gieng so weit, daß ich auch am Tage nicht allein in der Stube bleiben konnte. Woher dieser Fehler entstanden, davon kann ich gar keinen Grund angeben; daß aber diese Furchtsamkeit sehr groß war, erinnere ich mich noch mit der äussersten Lebhaftigkeit. Meine Eltern gaben sich alle Mühe, mir solches abzugewöhnen, und ließen mich zuweilen zur Mittagszeit allein in der Stube; sie schlossen auch, um mir zu zeigen, daß mir niemand etwas zu Leide thun würde, die Thür zu, damit ich ihnen nicht nachfolgen sollte. Ich stand aber Todesangst aus, und man mußte mich wieder herauslassen. Des Abends blieb ich noch viel weniger allein. Wenn man mich zu Bette brachte, mußte allezeit einer [46]so lange vor dem Bette sitzen bleiben, bis ich eingeschlafen war, und doch wußte ich gar nichts anzugeben, wovor ich mich fürchtete. Wachte ich auf, und fand keinen vor meinen Bette, so sprang ich in größter Angst auf, lief in Finstern durchs ganze Haus, und setzte mich, (weil ich mich nicht hinein getrauete) vor die Thür der Stube, worin mehrere Menschen befindlich waren, denn wenn ich nur noch bei mir jemand reden hörete, so verschwand die Furchtsamkeit. Ich habe diesen Fehler noch nachher bei zunehmenden Jahren an mir gehabt, und mir alle mögliche Mühe geben müssen, ihn abzulegen. Zuletzt hat er sich gänzlich verlohren, aber wirklich erst sehr spät.