ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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I.

Beispiel einer ausserordentlichen Vergessenheit.

Streithorst, Johann Werner

Der litterarischen Gesellschaft zu Halberstadt vorgelesen am 23. Febr. 1784.
von Joh. Werner Streithorst, Domprediger zu Halberstadt.

Ich bitte um Erlaubniß, Ihnen H. H. eine ungewöhnliche Erscheinung in der moralischen Welt, nebst den Gedanken, die ich darüber gehabt habe, zur Beurtheilung und Prüfung mittheilen zu dürfen. Ich will mit der Erzählung dieses Vor-[2]falls, dessen Wahrheit ich verbürge, den Anfang machen. Das in aller Absicht merkwürdige Faktum ist folgendes:

Bald nach dem neuen Jahr wurd' ich zu einem Kranken gefodert, der das hitzige Fieber hatte und in sichtbarer Todesgefahr schwebte. Ich traf ihn völlig bei Verstande, ohnerachtet er vorher sehr phantasirt hatte. Seit dieser Zeit hab' ich ihn Anfangs täglich, nachher, bei zunehmender Besserung einen Tag um den andern besucht, und ihn zwar das eine mal stärker, das andre mal schwächer, aber doch immer verständig gefunden. Schon nach dem vierzehnten Tage fing sich der Patient zu bessern an, und die verdorbnen Säfte zogen sich an einen Theil des Körpers, wo sie allmählig abgeleitet werden konnten. Er hatte viel zu leiden, empfand es, war aber standhaft genug, alles auszuhalten. Mehrmals erinnerte sich der Patient, während dieser Zeit an Lehren und Trostgründe, die ich ihm mehrere Tage vorher zur Beherzigung empfohlen hatte. Er fragte und faßte meine Antwort, ich fragte und erhielt richtige Antworten. Nicht einmal in der Phantasie hat er ein ungebührliches Wort gesprochen, oder eine schlechte Handlung vorgenommen. Und in guten Stunden äusserte er durch Worte und That solche ächt christliche Gesinnungen, daß er allen, die wahre Herzensgüte zu schätzen wußten, nicht wenig Freude machte. Am Ende des Januars merkte ich [3]die Veränderung an ihm, daß seine Empfindungen lebhafter zu werden anfiengen, denn er wurde beredter und begleitete die frohesten Religionsgefühle gewöhnlich mit Thränen. Einige Tage darauf war mit ihm eine noch auffallendere Veränderung vorgegangen. Er war munter, lebhaft und sprach mit größern Zusammenhang und stärkerer Stimme. Er empfieng mich und andere, als wenn wir ihn das erstemal besucht hätten. Zugleich erklärte er mir, daß er nicht wisse, was mit ihm vorgegangen sey, man habe ihm gesagt, daß er mehrere Wochen krank gewesen, aber es sey ihm, als wenn er nur einen Tag länger gelebt hätte. Selbst von den öftern schmerzhaften Operationen des Wundarztes wußte er sich nur an eine einzige ganz dunkel zu erinnern, die, nach seinem Ausdruck, wie im Traum geschehen und von ihm nicht sonderlich empfunden sey. Zum Behuf dieser Operation war er ausser Bette gebracht worden. Er konnte sich weder an meine vorigen Besuche noch Reden erinnern. Ich stand voller Verwunderung da, that allerlei Fragen an ihn, den vorhergehenden Zustand betreffend, und er konnte mir keine einzige beantworten, so gern er's auch gethan hätte. Kurz! es war, als wenn er aus dem Lethe getrunken hätte. Ueber die Verwandelung, die mit ihm vorgegangen war, gab er mir selbst folgende Auskunft: daß er sich am letzten Tage von seinem Krankenlager auf ein gehörtes Klingeln an der Thür mit großen Un-[4]vermögen aus der Stube nach der Thür hingeschleppt, dieselbe geöffnet und ein ihm bekanntes armes Kind welchem er bisweilen ein Stück Brod oder einen Pfennig zu geben pflege, mit bloßen Füßen auf dem beschneieten Tritt gefunden habe, daß er aber dasselbe dieses mal abgewiesen, weil es ihm unmöglich geschienen habe, diesen Weg, um ein Allmosen zu hohlen, bei ganz erschlafften Gliedern noch einige mal thun zu können; es sei ihm aber hinterher sehr nahe gegangen, das arme Kind abgewiesen zu haben. Das sei die letzte Begebenheit, woran er sich erinnern könne. Damit habe sich auch sein Bewußtseyn wieder angefangen. Vor einigen Tagen nämlich sey ihm gewesen, als stünde das Kind barfuß vor dem Bette und heische eine Gabe, dieses Bild habe ihn erst nicht verlassen wollen. Allmählig aber wären andre Vorstellungen gekommen, er habe nun nach und nach wieder hören und sehen können, was um ihn her vorgegangen sey und endlich habe er am vierten Tage darauf eine solche Veränderung in seinem Kopfe gespürt, welche er mit Worten nicht ausdrücken könne, die ihm aber eine solche Freude gemacht habe, als wenn ihm wer weiß was geschenkt wäre. Die sichtbare Rührung des Patienten ließ an dieser Versicherung nicht zweifeln; so wie überhaupt die oben schon bemerkte Rechtschaffenheit des Kranken, sein christliches Verhalten während der Krankheit auch nicht den geringsten Verdacht gegen die versicherte [5]Vergessenheit des ganzen vorherigen Zustandes, die eine Operation des Wundarztes ausgenommen, Statt finden läßt. Hier haben Sie also, M. H., ein Beispiel einer ausserordentlichen Vergessenheit eines fünfwöchentlichen Zustandes. Die ganze Zwischenzeit zwischen dem wirklichen Anblick des Kindes und der Erscheinung desselben in dem Gedächtniß, die einen Zeitraum von wenigstens fünf Wochen begreift, ist dem Kranken, im eigentlichsten Verstande, verschwunden.

Ich überlaß' es den Aerzten, diese sonderbare Erscheinung phisiologisch und pathologisch zu untersuchen, mir ist sie in psichologischer Hinsicht merkwürdig. Ich bemerke zum voraus folgendes:

1) Der Kranke hat nichts am Erinnerungsvermögen verloren, es ist nicht Schwäche seines Gedächtnisses, als Vermögen der Seele betrachtet, daß er sich dieses Zwischenzustandes so wenig erinnern kann, denn er kann sich übrigens auf die größten Kleinigkeiten besinnen, wenn sie nur nicht in diesen Zeitraum gehören.

2) Er hat während der Zeit, worauf er sich so wenig besinnen kann, die Empfindungen und Vorstellungen wirklich gehabt, die er äusserte, so wie den freyen Gebrauch seines Verstandes in den guten Stunden, denn seine Gedanken hatten Ordnung und Zusammenhang, wie jetzt, wo sie sich von jenen durch nichts, als Stärke und Lebhaftigkeit unterscheiden.

[6]

3) Die Reihe von Eindrücken und Vorstellungen, welche der Patient in dem Zwischenzustande gehabt hat, ist entweder gänzlich wieder aus der Seele verschwunden oder so verdunkelt worden, daß ihre Erneuerung nicht möglich ist.

4) Das Sonderbare liegt darin, daß er sich an nichts als die eine Operation des Wundarztes erinnern kann, und daß sich die Vorstellungen bei wieder lebhafter gewordnen Bewußtseyn an jene anreihen, womit sich das lebhaftere Bewußtseyn verlor, daß der Kranke mit eben dem Gedanken gleichsam wieder erwachte, mit welchen er eingeschlummert war.

Es entsteht also die dem Psychologen wichtige Frage:

Wie ist's möglich, daß eine lange Reihe von Eindrücken und Vorstellungen, so in der Seele verdunkelt werden kann, daß der letzte Gedanke, der vor denselben hergieng, der erste wird, womit die lebhaftern Eindrücke und Vorstellungen wieder beginnen?

Oder

Wie ists möglich, daß unter den erinnerlichen Dingen — im Gedächtniß — eine so grosse Lücke entstehen kann, und daß sich Vorstellungen an einander reihen können, zwischen welchen doch eine grosse Menge anderer in der Mitte lag, die wie abgerissene Stücke einer Kette zerstreuet werden und sich ganz verlieren?

[7]

Ich will es versuchen, diese Frage aufzulösen. Eine bekannte Erfahrung ist es, daß gewisse Eindrücke und Vorstellungen, bei Mangel der Aufmerksamkeit und Beobachtung, die Seele so leise berühren, daß davon gar keine Spur zurückbleibt. So geschieht es, daß viele mit offnen Ohren nicht hören, und mit unverschloßnen Augen nicht sehen. Wenn wir ein Buch lesen, und haben dabei fremde Gedanken, so machen die Worte einen gewissen schwachen Eindruck auf uns, und bringen auch wohl manche helldunkle Vorstellungen hervor, alles aber vermischt sich mit jenen fremden Gedanken und wir wissen am Ende nicht, was wir gelesen haben. Die Erinnerung hängt von der Stärke der Eindrücke und von der Lebhaftigkeit der Vorstellungen ab, je schwächer beide sind, desto schwerer ist nachher die Erinnerung und beim geringsten Grade dieser Stärke und Lebhaftigkeit ist die Vergessenheit unvermeidlich. Darum verwischen sich unzählige Eindrücke in unsrer Seele, wie die zu lose aufgetragnen Farben des Pastelmahlers. Wir verlieren auf diese Art Millionen Vorstellungen wieder, die wir einmal gehabt haben, dergestallt, daß, wenn wir sie in Zukunft mit grösserer Lebhaftigkeit bekommen, sie uns ganz neu zu seyn scheinen. Ich habe in manchem meiner Bücher die merkwürdigsten Stellen unterstrichen, und beim Wiederlesen waren sie mir so neu, als sie es das erstemal nur immer gewesen seyn mögen. Also Stärke der Eindrücke und [8]Lebhaftigkeit der Vorstellungen macht die Erinnerung möglich und leicht.

Diese Stärke und Lebhaftigkeit hängt aber nicht immer blos von der eignen Stimmung der Seele ab, wie in dem eben benannten Falle; sondern auch von der körperlichen Beschaffenheit. Es gibt nämlich körperliche Zustände, welche nur schwache Eindrücke und matte Vorstellungen zulassen. Von der Art muß der Zustand des Menschen in der ersten Kindheit seyn, weil wir uns von daher auf nichts zu besinnen wissen. Im hohen Alter pflegt das Gedächtniß Lücken zu bekommen, das ist, manche Eindrücke und Vorstellungen können da entweder nicht so leicht oder überall nicht wieder hervorgebracht werden. Der Grund davon liegt ebenfalls in der Beschaffenheit des Körpers.

Dasjenige in unserm Körper, wovon diese Stärke und Lebhaftigkeit abhängt, ist ohnzweifel die Stärke und Spannung der Nerven. Von ihrer Beschaffenheit hängt es ab, wenn wir schwächere oder stärkere, mehr oder minder lebhafte Vorstellungen bekommen; so wie es ebenfalls davon abhängt, ob wir sie reproduziren können, oder nicht, denn bei diesem Reproduziren braucht die Seele den Körper, sie läßt das Gehirn und die Nerven so spielen, wie sie zu wirken pflegen, wenn sinnliche Vorstellungen von aussen in die Seele gebracht werden, weshalb anhaltendes Nachdenken den Körper ermüdet und Kopfweh verursachen kann. Wel-[9]chen Grad der Spannung die Nerven haben müssen, wenn unsere Eindrücke die gehörige Stärke und unsere Vorstellungen die gehörige Lebhaftigkeit erlangen sollen, läßt sich auf keinen Fall bestimmen. Aber soviel ist gewiß, daß zwischen beiden Extremen, zwischen zu hoher Spannung und völliger Erschlaffung ein mittlerer Tonus Statt haben muß, wenn die Eindrücke und Vorstellungen die gehörigen Grade der Stärke und Lebhaftigkeit bekommen sollen. Ueberspannung erzeugt Schwärmerei Wahnsinn und Narrheit. Erschlaffung verursacht zu schwache Eindrücke, zu matte Vorstellungen, die wie Irrlichter im Kopfe umhergaukeln, aber wie diese auch leicht verschwinden und bald wieder ausgelöscht werden können. Beide Zustände lassen keine dauerhafte Eindrücke zu, weil die Seele im ersten Fall überladen, und im zwoten gleichsam zu leise berührt wird. Die Empfindungswerkzeuge treiben da mehr ihr eigenes Spiel, als daß sie von äusserlichen Dingen in Bewegung gesetzt werden sollten. Die Seele kann also während solcher Zeit weder vollständige noch dauerhafte Vorstellungen bekommen.

Erschlaffung der Nerven war der Zustand, worin sich unser Patient befand, und dieser Zustand dauerte einige Wochen fort. Die Eindrücke und Vorstellungen konnten zu wenig auf seiner Seele haften, und wurden daher auch leicht wieder verwischt. Nach und nach hob sich die Kraft des [10]Körpers und mit einem mal erreichten die Nerven den gehörigen Grad der Spannung wieder, sie wurden wieder heraufgestimmt, die Lebensgeister kamen wieder in gehörigen Umlauf. Das verursachte dem Kranken das bis dahin ungewohnte Gefühl des Wohlseyns, welches mit der lebhaftesten Freude verbunden war. Jetzt strömten ihm, gleich einem aufgehaltenen Strom, von allen Seiten neue Eindrücke entgegen. Jene Erschlaffung hatte nur schwache Eindrücke und Vorstellungen zugelassen, die also ohnehin nicht leicht reproducirt werden konnten. Um desto eher konnten sie von den neuen weit stärkern Eindrücken so überwältiget werden, daß von ihnen keine Spur übrig blieb. Nur der Eindruck von der einen Operation des Wundarztes war stark genug gewesen, um fortdauern zu können, bei welcher Gelegenheit die Nerven eine grössere Spannung durch die Vorbereitungen zur Operation bekommen hatten, denn der Patient war bei dieser Gelegenheit ausser Bette gebracht worden.

Warum aber knüpfte sich der erste Gedanke des lebhafter werdenden Bewußtseyns an den letztern, welchen die Seele hatte, als diese Lebhaftigkeit anfieng einzuschlummern? — Bestimmt kann ichs nicht sagen, aber ich darf vermuthen. Wahrscheinlich nahm die Spannung der Nerven in dem Grade zu, in welchem sie vorher abgenommen hatte, und hatte zu der Zeit, da der Seele das Bild des armen Kindes vorschwebte, eben den Grad [11]wieder erreicht, auf welchem sie stand, als der Knabe wirklich vor Augen war. Irgend eine Aehnlichkeit der Empfindung veranlaßte die Seele, die damit vergesellschafteten Empfindungen und Vorstellungen zu gleicher Zeit hervorzubringen. Auch konnte dieser Eindruck darum zuerst wieder aufleben, weil er der letzte war, der sich tief eingepräget hatte. In der Körperwelt findet sich etwas analogisches. Manche Krankheiten bleiben in ihrer Entwickelung, wenn eine neue dazu kommt, so lange zurück, bis die neue Krankheit gehoben ist. Es giebt Personen, welche sich keines Traums in ihrem ganzen Leben zu erinnern wissen. Und doch ist höchst wahrscheinlich, daß ihre Seele nicht mit dem Körper ruhet. Sie haben zu schwache Vorstellungen im Schlaf, welche keine Spur in der Seele zurücklassen und beim Erwachen des Körpers durch die neuen Eindrücke mit einemmal verdrängt werden.

Ich füge noch einige merkwürdige Exempel dieser Art hinzu. Ein Schullehrer in Briezke bei Frankfurt an der Oder hatte mehrere Wochen an einem hitzigen Fieber darnieder gelegen. Sein Tod schien unvermeidlich zu seyn. Er starb endlich nach der Meinung der Umstehenden. Man brachte den vermeintlich entseelten Körper in eine Kammer aufs Stroh. Die Frau konnte mit ihren fünf Kindern vor Bedrübniß nicht im Hause bleiben, sondern begab sich zu einen Nachbar, schick-[12]te nach Frankfurt und ließ einen Sarg hohlen. Der Sarg kam, und die Frau sah sich genöthiget in ihr Haus zurückzukehren, um den Todten in den Sarg zu bringen. Sie öffnete die Thüre, und hatte einen Anblick der über alle Beschreibung ist. Ihr Mann saß angezogen beim Hackeblock und machte Küchenholz, wie er sonst zu thun gewohnt gewesen. Sie stand betäubt da, bis sie durch das Zureden des Mannes wieder zu sich selbst kam. Der Mann erkundigte sich nach der Ursach ihres Erstaunens und der gemachten Anstalten. Man erzählte ihm alles, und es war ihm unglaublich, denn er konnte sich nicht einmal besinnen, daß er krank gewesen sey. Nach einem halben Jahre erst war er im Stande, sich der während der Krankheit geschehenen Begebenheiten zu erinnern (sieh. d. Berichte der Buchhandl. der Gel. v. 1785.) a

In einer nahmhaften Stadt Frankreichs ereignete sich folgender sonderbare Vorfall. Ein Mann hielt auf dem Gerüste eines zu erbauenden Hauses eine Rede. Das Gerüste stürzte nieder und er mit demselben, so daß er für todt nach Hause getragen wurde. Er lag einige Tage Sinn- und Sprachlos. Als er wieder zu sich selbst kam, setzte er seine Rede fort, die durch den Einsturz des Gerüstes unterbrochen war.

Vom Professor Musäus in Weimar, dem Verfasser der physiognomischen Reisen b und der Volksmährchen der Deutschen, c ist mir erzehlt worden, [13]daß er einst nach einer gewissen Krankheit so wenig Besinnungskraft gehabt habe, daß ihm das Alphabet selbst ganz fremd gewesen, und er daher genöthiget worden sey, mit den Elementen der Schriftsprache wieder den Anfang zu machen, bis nach einiger Zeit alles Licht in seine Seele zurückgekehret sey.

Alle diese Beispiele, so wie das Meinige, beweisen, was vor ein unentbehrliches Instrument der Körper für die Seele sey, und wie viel auf der Güte des Instruments und seiner Stimmung beruhe. Die Antwort ist mir sehr eindrücklich geblieben, welche ein gelähmter Greiß seinem Arzte gab, der ihm den groben Materialismus aus seinem gegenwärtigen Unvermögen beweisen wollte. Geben sie einmal, sagt' er, dem Virtuosen auf der Violin eine Kindergeige, wird dieser weniger Virtuose seyn, weil er mit einem solchen Instrument keine Harmonien zu Stande bringen kann? Es ist unleugbar, daß der menschliche Geist oft mechanisch wirkt; aber man würde sich sehr übereilen, wenn man daraus schliessen wollte, daß er so mit dem Körper vereinbart sey, daß er selbst nur eine Modification gewisser innerer Theile des Körpers, sey, welche gleichsam die Punkte wären, von welchen die Wirkungen ausgehen, und worin sich die Empfindungen endigen. Kann der Punkt sich selbst denken und war je ein Spiegel Beobachter und Gegenstand der Beobachtung zugleich? Wahrlich! [14]das wäre räthselhafter, als das geheimnißvolle Dunkel, welches dem Menschen sein Innerstes Wesen verbirgt. Wahrlich! es wäre das räthselhafteste Räthsel, wenn unsere Gedanken so an unsern Nerven hafteten, wie die Perlen auf einem Faden zusammengereihet werden, und wenn die gerißne Schnur sich selbst wieder zusammenknüpfen, nur nicht alle zerstreuete Perlen wieder aufreihen könnte. Solche Erscheinungen, wie die angeführten, irren mich in dem Glauben an die höhere Natur und Bestimmung des menschlichen Geistes nicht, vielmehr bestätigen sie mir beides. Das Kind ist nicht für das vollkommne Instrument und das vollkommne Instrument nicht für das Kind. Aber wenn es die erste Stufe seiner Bildung glücklich vollendet hat, so wird man ihm das vollkommnere Instrument anvertrauen können, und es wird in die Harmonien der Engel einstimmen.

Erläuterungen:

a: Carl Christoph Reiche gründete 1781 die Buchhandlung der Gelehrten in Dessau. Im April desselben Jahres erschien das erste Heft der Zeitschrift Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten. Die Zeitschrift erschien monatlich bis Dezember 1784, jedoch wurde in einigen Bibliotheken die Jahresangabe 1785 aufgenommen. Vorlage für diese Fallgeschichte ist der Aufsatz 'Ueber die Gewohnheit, die Todten in Särgen zu begraben', Anonym 1784, S. 911f.

b: Musäus 1778/1779.

c: Musäus 1782-1786.