ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: I, Stück: 1 (1783) >  

II.

Genesungsgeschichte eines Jünglings von einem dreimonathlichen Wahnwitz.

Anonym

Ein Jüngling von neunzehn Jahren, cholerisch-sanguinischen Temperaments, dessen Körper von Jugend auf stark und meist gesund, dessen Gemüth heiter war, und dem es nicht an Geisteskräften fehlte, bei welchen er durch anhaltenden Fleiß dasjenige hinreichend ersetzet hatte, was die Natur ihm an Geschwindigkeit, sich Begriffe zu eigen zu machen, versagte; der sich durch anständige Sitten überall beliebt gemacht, auch die Pflichten eines gehorsamen und wohlgearteten Sohnes gegen seinen Vater — seine Mutter hatte er schon im 7ten Jahr seines Alters verlohren — stets beobachtet hatte; wurde nach einem zu sehr angestrengten Schulfleiß hauptsächlich einige Monathe durch, wegen zweier ihm bevorstehenden öffentlichen Prüfungen, auf einmal, nach überstandener mit Ruhm vollendeter Uebung mit einer Schwere im Kopfe befallen, empfand Beängstigungen in der Brust, Trägheit in allen Gliedern, bekam einen vollen, langsamen, harten Puls, die Ausleerungen des Körpers wurden wenig und selten, der Appetit zum Essen geringer, der Nachtschlaf abwechselnd bald sehr unruhig und kurz, bald sehr tief und lang anhaltend.

[16]

Nachdem diese Zufälle auf das höchste gestiegen waren, so entstand eine solche Trägheit und Schwäche des ganzen Körpers, daß eine starke Traurigkeit und Tiefsinnigkeit des Gemüthes sich einfand, wodurch alle innere Verrichtungen des Nachdenkens, Ueberlegens, Beurtheilens unordentlich wurden, auch faßte er sogar einigemal den Entschluß, durch Strick und Messer sich dieses traurigen Zustandes zu entledigen.

Die hiergegen angewandten Mittel des Arztes übergehe ich, unter der bloßen Anzeige, daß ihm, da er zu keiner Aderlaß die ersten acht Wochen zu bringen war, als er es endlich geschehen ließ, nachhero wahrscheinlicherweise zu viel Blut abgezapfet worden ist.

Nach einem beinahe viermonathlichen Gebrauch erweichender und verdünnender Arzeneyen, verbunden mit einer Nelken- und Seydschützerwasserkur, ließen die körperlichen Beschwerden nach, und die Seelenkräfte wurden wieder stärker: aber, so wie während dieser Krankheit, Tiefsinn und Niedergeschlagenheit groß gewesen waren, entstand alsdann in einem kurzen Zeitpunkt eine solche Abwechselung hierin, daß eben eine so grosse Lebhaftigkeit des Geistes, Zufriedenheit, Freude und Vergnügen über das gewöhnliche ihm sonst eigenthümliche Maaß an deren Stelle trat.

Man hielt diesen Zustand anfänglich für natürlich; und um gewahr zu werden, ob er von Dauer [17]seyn würde, wurden die zeither gebrauchten schwächenden Mittel bei Seite gesetzt, so daß sein weiteres Befinden ganz der Natur überlassen wurde, und man wollte erst nach einiger Zeit stärkende Arzeneyen brauchen lassen, wodurch eine bessere Mischung der flüßigen und mehrere Kraft der festen Theile des Körpers zuwege gebracht werden sollten.

In dieser Zwischenzeit nahm er weiter die gewöhnliche Erlernung der Wissenschaften vor, jedoch anfänglich mit Unterschied der Anstrengung, und mehr als blosser Zuhörer; kurz darauf aber mit so erneuertem und munterem Fleiß, daß er über seine eigene Arbeiten noch anderer ihre aus Freundschaft vertrat, mit einer Leichtigkeit, die ihm sonst nicht von Natur eigen war.

Hiebei fand er vielen Geschmack an Zerstreuung und gesellschaftlichem Vergnügen, so daß er an Geist und Körper zusehends genaß.

Dieser Zustand dauerte an vier bis fünf Wochen, wobei insbesondere seine Seelenkräfte über den gewöhnlichsten Grad stark ausgedehnt und thätig blieben. Plötzlich fanden sich kleine, wiewohl nicht auffallend zu bemerkende Verirrungen des Geistes ein; aber nicht lange hierauf wurden dieselben so heftig, daß Zorn, ja sogar Wuth und die größten verwirrten Uebereilungen erfolgten; doch in Tagesraum ließ dieser unnatürliche Zustand wieder bis zum Schein der zurückgekehrten Vernunft nach, zwar abwechselnd mit Zwischenzeiten, bis [18]nach zwei Tagen in der Nacht ein wüthender Paroxismus bei ihm entstand, wobei er, als derselbe nachließ, sehnlich zu seinem Vater und der Stiefmutter, die zwei Tagereisen weit entfernt waren, verlangte, einige Gemüthsfreunde von Lehrern und sonstigem Umgang zu sprechen wünschte, und als man ihm dieß gewährte, wieder ganz beruhiget wurde. Und da das Verlangen nach Hause zu reisen blieb, so wagte man es, unter Begleitung eines sichern Mannes, ihn den Morgen darauf dahin abzuschicken, wo er ganz unvermuthet den andern Abend glücklich eintraf.

Unterwegens hatte er in überspannten Ausdrücken mit der angetroffenen Post an einige zurückgelassene Verwandte und Freunde dankbar geschrieben, auch an dem einen Ort des Mittags, unter einem angenommenen fremden Namen und Charakter, sich bei einem Einwohner zu Gaste gebeten, war sehr gesprächig allda, so wie auch sonst unterwegens, gewesen, und langte dann so wohlbehalten in seine Heimath an. Wie schon erwähnt, seinen Eltern war von diesem Besuch nichts bewußt, — sie glaubten ihn den vorher verschiedentlich erhaltenen Nachrichten nach wieder hergestellet — und als er Abends um sieben Uhr im September-Monath in ihr Zimmer trat, mit einem hastigen und lauten Tone »guten Abend, lieber Vater! sagte, ich komme Sie zu besuchen;« versetzte der über diese unvermuthete Ankunft betroffene Vater: [19]»Gott! wo kommst Du her, lieber Sohn?« antwortete er hastig und mit verdrüßlichem Laut: »Sehen Sie mich etwa nicht gern, so reise ich gleich wieder fort;« welches Bezeigen seinem sonstigen ganz entgegen stand.

Nach kurzer Selbstsammlung und nachdem ich die Unrichtigkeit in seinem Gemüthe bemerkte, versetzte ich den erhaltenen Schrecken verbergend: »nein, liebster Sohn! Du bist mir herzlich angenehm, nur bist Du mir unvermuthet gekommen, und aus dieser geäußerten Befremdung schließest Du unrichtig das Gegentheil vom Willkommenseyn.«

»Ja, war die Erwiederung, das muß ich gestehen, ich bin jetzt ausserordentlich empfindlich, und wer nur im geringsten meine Ehre antasten will, gegen den bin ich augenblicklich aufgebracht.« Hierüber abbrechend erkundigte ich mich nach seinem und der verlassenen Verwandten Befinden, worauf er kurz antwortete, mittlerweile seine Stiefmutter wieder ins Zimmer kam, die ihn mit einer ihr gewöhnlichen sanften und heiteren Miene empfing, zu der er sagte, wo sind Sie gewesen, o nur nicht zu viele Umstände meinetwegen gemacht, das bringt mich gleich in Verlegenheit — und sein Ton klang abermals verdrüßlich.

Ehe ich weiter fortfahre, werde ich so eben gewahr, der Geschichtserzähler sey verrathen, was ich beym Anfang des Aufsatzes just nicht wollte; [20]indessen sei es, dieser einmal angesponnene Faden mag so fortgezogen werden, und gewiß wird er ohne fremden Zusatz abgesponnen werden.

Man hatte an dem Ort, wo er herkam, die Unvorsichtigkeit begangen — vermuthlich aus verlegener Beängstigung — meinen Sohn so plötzlich abzuschicken, ohne mich von seinem wahren Zustande vorhero benachrichtiget zu haben, und ein kurzer mitgegebener Brief zeigte bloß an, nach seinem Verlangen und zu seiner völligen Erholung käme er zu uns, so wie sein Begleiter, mit dem ich alleine sprach, nur angab, widersprechen ließe er sich nicht gern.

Erst zwei Tage darauf langte mit der Post die wahre Nachricht von seinem Zustand, des Arztes Krankheitsgeschichte an. Indem ich kaum mit dem Begleiter zu sprechen angefangen hatte, kam er sogleich nach und frug mich französisch: »warum ich mit selbigem besonders spräche? das wäre überflüßig und ihm unangenehm, er könne und würde mir alles selbst sagen und beantworten.« Bei Ueberreichung des Schreibens wollte er ihn auch lesen, welches ich zuließ, und da er an die Worte kam: »daß seinem Verlangen gemäß er zur Zerstreuung und völligen Erholung sich einige Wochen bei uns aufhalten würde, so sagte er: ja, lieber Vater, so ist es.« Wir setzten uns hierauf zum Abendbrod, wobei er sehr gesprächig wurde, sogleich die ihm noch vorgeschriebene Diät von selbst angab, [21]und von den Zurückgelassenen mancherlei erzählte, zwar ordentlich, doch mit geschwinderem und lauterem Ton, als sein natürlicher war.

Zuletzt kam er auf das Thema seiner, wegen der bevorstehenden Beziehung der Akademie, in Versen auszuarbeitenden Schulabschiedsrede, und zeigte mir in seinem Portefeuille einen kurzen bereits gemachten Anfang, der noch keiner Beurtheilung fähig war: hiebei aber las er ein bei Freunden auf dem Lande kürzlich verfertiges Gedicht vor, weshalb er vermeinte, Beifall bei der Frau vom Haus erhalten zu haben, ich aber fand deutliche Spuren des geschwächten Kopfs darinnen.

Ueberhaupt leuchtete viele Selbstzufriedenheit und Bewustseyn seines Ichs bei der Unterredung herfür, und da ich äusserlich dem Gedichtchen beipflichtete, so heiterte sich seine vorher etwas starre Miene völlig auf, und er ward vergnügt.

Gegen die Mutter hatte er während meiner Abwesenheit Händel erzählet, die er in der verlassenen Schule mit Lehrern, so wie mit dem Arzt kurz vor seiner Abreise gehabt habe, doch sie gebeten, mir davon nichts zu erwähnen: die gleiche Erzählung machte er den andern Nachmittag einem Vetter, doch mit demselbigen Ersuchen von Verschwiegenheit gegen mich.

In einem Zimmer legten wir uns zusammen nieder, kaum war eine Stunde vorbei, so setzte er sich hin, um zu schreiben. Ich frug ihn, was er [22]denn jetzt machen wolle? — »er könne nicht schlafen und wolle zu der Abschiedsrede Verse machen,« war die Erwiederung. Beiliegende Reime hat er zwei Nächte hintereinander, ohne weitere Feilung in einer Zeit von etwa sechs bis sieben Stunden aufgesetzet; das aufgegebene Thema war: die Tugend ist der wahre und sichere Weg zur Glückseeligkeit.

Zuweilen stand er vom Arbeiten auf, sah ob wir schliefen, legte sich ins Fenster, sang ein Liedchen, wobei sich äußerte, daß er gegen ein wohlgezogenes schönes Mädchen in seinem bisherigen Aufenthaltsort lebhafte Zuneigung hatte, auch wurde aufsteigender Liebestrieb, mehr als bloß platonisch, an ihm wahrgenommen.

Erst bei Tagesanbruch legte er sich wieder nieder und schlief ein paar Stunden. Früh um sieben Uhr kehrte sein Begleiter zurück, mit dem er die unterwegens gemachten Auslagen berechnete und unter meinem mitgebenden Brief vollständig ordentlich einige Zeilen hinzufügte.

Beim Anzug hatte er gegen die Mutter wieder verschiedenes von den vorhin erwähnten vorgefallenen Schulhändeln mit Heftigkeit erzählt. Mit mir war er zurückhaltend im Sprechen. Nach dem Mittagsessen legte er sich aufs Bett; anstatt aber zu schlafen, wollte er gegen das Dienstmädchen Jünglingstriebe ausüben und sprach Zoten; — gänzlich gegen seine sonstige Art sich zu betragen. [23]Nachmittags ging ich mit ihm spatzieren, er bezeigte Vergnügen über sein Hierseyn, und kaum athmeten wir freie Luft, so fing er an mir zu erzählen, wie er durch Lesung der Voltairischen und Lessingischen Schriften auch verschiedentlicher lateinischer Disputationes kein ächter Christ geworden sei, von der Religion eine geraume Zeit nichts gehalten habe, keinen zukünftigen Zustand mehr geglaubt, und in seinem erlittenen Tiefsinn habe er zweimal selbst Hand an sich legen wollen, einmal mit einem Strick, den er sich des Nachts schon im Bette umgebunden gehabt, sich zu erdrosseln, ein andermal wäre er im Begriff gewesen, sich in den Fluß zu stürzen, wozu aber just ein bekannter Offizier gekommen, der ihn gefragt, was er da machen wolle, und diese Begegnung habe ihn wieder ermannet. Kurz vor seiner Abreise hätte er einem seiner Schullehrer, der ein Herzensfreund sei, wegen der gehegten Religionszweifel Eröfnung gethan, der ihn wieder auf einen richtigeren Weg geleitet habe, so daß er hoffe, er werde durch mehrere Unterhaltung mit selbigem wieder seinen ehemaligen festgegründeten Glauben ganz zweifelsloß erhalten, auch könne er wieder mit Andacht beten, so wie er mit Ueberzeugung das letzteremal wieder der Communion beigewohnet, welches einige Zeit vorher nur der eingeführten Regel wegen von ihm geschehen sey.

[24]

Von seinem vielen Nachtaufsitzen und heimlichen Lesen, wie nicht weniger von vielfachen Arbeiten erwähnte er gleichfalls, und bezeigte völlige Selbstzufriedenheit mit den Graden seines erlernten Wissens.

Während diesen Erzählungen hatte ich nur meist in Sylben geantwortet; und da er eine Pause damit machte, so gab ich ihm mein Befremden zu erkennen, in Rücksicht der abgeänderten Religionsgesinnungen, die er sonst hier richtig gefaßt hatte, ob schon nicht nach dem gewöhnlichen Schlendrian, auch wundere es mich, da wir ehedem mehrmalen darüber zu meiner Zufriedenheit gesprochen hatten, wie er so geschwind sich vom Gegentheil habe blenden lassen können. Ja, versetzte er, alles war damals bloße Verstellung bei mir, so wie ich ebenfalls die paar Jahre in meinem Schulauffenthalt alle darmit geäffet habe.

Da Heuchelei nie in seinem Grundcharakter gekeimet hatte, und auch mein Erziehungsplan ihm just das Gegentheil eingepräget hatte; so stutzte ich zwar über seine Versicherung, zweifelte indessen doch an ihrer Richtigkeit, so wie an der, daß eine anhaltende Lesung von Voltairischen Schriften ihm Unglauben eingeprediget habe, ob schon er mir von beidem wiederhohlt die sichere Wahrheit behauptete.

Wir kehrten zur Stadt zurück, mit der Abrede hierüber ferner uns zu unterhalten. Der Abend ging mit Kartenspiel und leichtem Essen gut vor-[25]über, nur bei ersterem hatte der Widersprechungsgeist viel zu schaffen, und Leichtsinnigkeit im Spielen begleitete denselben. Die Nacht wurde so wie die vorhergehende, meist mit Dichten, zugebracht, und eben wieder so wenig Schlaf.

Der Morgen brachte mir die so sehnlich erwarteten Nachrichten wegen seines Verhaltens am verlassenen Orte mit, und ich eilte zu meinem Aesculap, sie ihm mitzutheilen. Nach bedächtiger Durchlesung derselben und Anhörung meiner Bemerkungen versicherte mich dieser einsichtsvolle und edelmüthige Arzt, er würde über seinen Zustand nachdenken und ihn besuchen, pflichtete auch in so weit überhaupt seinem Vorgänger in der Kurart bei, das häufige Aderlassen ausgenommen. Mittag und Nachmittag verstrichen wie am gestrigen Tag, gegen Abend gingen wir wieder spatzieren, und hierbei nahm augenscheinlich die innere Hitze bei ihm zu; so laut als wären wir auf dem Gang alleine, fing er an Fragen in Beziehung auf vorjährige Vorfallenheiten aufzuwerfen, die Anzüglichkeit mit sich führten; warf Tadel um sich gegen uns, wurde trotzend und endigte zuletzt völlig im Ton des Heautontimorumenos. a

Beim Eingang am Haus bestand er mit Widersetzlichkeit darauf, noch einen alten hiesigen Schulfreund zu besuchen, und ob der Abend gleich schon dämmerte, so fand ich doch rathsam, ihm den Besuch auf eine halbe Stunde zuzulassen, damit er nicht [26]ganz laut aufgebracht ins mütterliche Zimmer eintreten möchte. Zur bestimmten Zeit kam er zurück, legte sich wenig redend aufs Sopha, und sah blaß aus, so viel Röthe auch sonst seine Wangen durchschien.

Ich ermunterte ihn zum Spiel, allein es lief unruhiger und schlechter wie den vorigen Abend ab, beim Essen war er mürrisch und legte sich auch so nieder. Um zwölf Uhr saß er wieder am Schreibtisch, arbeitete die halbe Nacht, verbarg aber am Morgen seine Arbeit vor mir, da er die Verse von den zwei vorhergehenden Nächten von selbst weggelegt hatte. Ich erfuhr zeitig früh, nach seiner Erhohlung im Schlafzimmer von den Leuten, wie er bei dem gestrigen Abendbesuch Verdruß und Händel gehabt hätte; und daß er versiegelte Schriften an seinen Vetter, einen Juristen, geschickt; doch alles dieses verheimlichte er vor mir. Diese enthielten anzusagende Klagen vor Gericht gegen die Abendgesellschaften, und einer davon enthielt sogar den Handschuh. Eigentlich aber war er der beleidigende Theil gewesen, und da er es zu arg gemacht hatte, wieß man ihm, indem man ihn für betrunken hielt, die Thüre.

Hierauf zog er sich aufs beste an, und wollte ohne Wiederrede in einem Hause, worin er von jeher gut aufgenommen war, Besuch abstatten, wobei ich Mühe hatte, ihn so lange zurückzuhal-[27]ten, bis der Arzt da gewesen sey, der den Morgen kam.

Um zehn Uhr erschien selbiger, verordnete Arzney und rieth ihm an, zu Hause zu bleiben, wozu er sich nicht verstehen wollte, indem er meynte, der Gebrauch des verschriebenen Mittels könne auch ausser dem Hause statt finden. Ich versetzte, er müsse dem Herrn Doktor folgen, und nahm ihn bei der Hand mit anhaltender Vorstellung; hierauf gerieth er in solche Hitze, daß er mir auf die Hand schlug, spukte, und ihn vor Zorn der Schaum vor dem Mund stand, mit der beständigen Weigerung nicht zu Hause zu bleiben, zuletzt sprang er auf, ergrif den Fensterflügel und wollte hinausspringen, ja in der Hitze faßte er ein auf dem Tisch liegendes Messer und drohete sich damit zu wehren, schmiß auch Tisch und Stühle um.

Der Arzt besänftigte ihn einigermaßen, und es wurde zu dem neben uns wohnenden Geistlichen geschickt, für den er von jeher Achtung und Liebe geheget hatte. Wie der kam, und ihn umarmte, so empfing er ihn gerührt, und weinte heftig, versprach zu folgen und wollte mit ihm allein sprechen.

Nachdem der Arzt weggegangen war, so gingen wir aus dem Zimmer, und er erzählte dem Geistlichen die erwähnte Geschichte seines Unglaubens, schob mit die Schuld auf mich, wie ich ihn von früher Jugend an, weder zu Religionsbegriffen, noch Bibellesen und Beten angehalten hätte — [28]alles grundfalsch — sprach überdem gegen uns Beyde nichts als Vorwürfe; doch wurde er besänftigt, und versprach ihm zu folgen, auch auf seinen Rath nicht auszugehen. Wie wir wiederum hereinkamen, bezeigte er sich ganz gelassen gegen uns, und sowohl der Geistliche als der Arzt hatten versprochen Nachmittags wieder zu ihm zu kommen, worüber er Zufriedenheit äusserte.

Auf Anrathen des letztern ward ein Aufpasser unten ins Haus bestellt, damit er nicht unversehens hinauskommen möchte, weil er immer wünschte, den vorgehabten Besuch noch abzustatten, und bis zur Wiederkunft des Arztes keine Gewalt dagegen gebrauchet werden sollte, sondern er nur mit Zureden, da Güte Eindruck machte, davon abgehalten wurde.

Die Arzenei nahm er ohne Wiederrede, und hierüber ward es Mittag. Kurz vor Tisch ging er in ein anders Zimmer, wo aufgeschnittener Braten stand, hiervon verschluckte er gierig einige geschnittene Stücke, und setzte sich mit uns beim Zurückkehren zur Suppe, ohne es sich merken zu lassen, daß er das Fleisch, was untersaget war, gegessen hatte.

Voll Unzufriedenheit und mürrischem Wesen sprach er beym Essen von der mehreren Freiheit, die ihm nun bei seinem Alter gegeben werden müßte, hinzugehen, wo es ihm gut dünkte, ohne es vorhero anzuzeigen, auch wolle er zur Zerstreuung aufs Land reisen, doch nicht etwa zu den Großel-[29]tern, wo er sonst sehr gerne war — sondern wo es besser und vergnügter zuginge, tadelte unsre einförmige und eingezogene Lebensart, und wünschte sich wieder in seinen verlassenen Auffenthalt.

Man gab nach, wie solches geschehen könne, und nach vollendeter Mahlzeit wollte er sich aufs Bett legen, wo er wieder gegen die Leute sich entschooßte, und Liebestrieb ausüben wollte. Darauf ging er zum Wirth im Haus, sprach vielerlei mit Munterkeit und Zusammenhang; von da besuchte er einen daselbst befindlichen Handlungsdiener, vertauschte seine bessere Uhr gegen eine schlechtere von ihm, erwähnte gegen die Mutter des Tausches, doch gegen mich verschwieg er ihn, und so ging er wieder herunter zum plaudern. Unter dieser Zeit war der Doktor mit dem Geistlichen gekommen, und funden zur eigenen und allgemeinen Sicherheit unumgänglich nöthig, daß er befestiget werden müsse, und so dann auf den Waden spanische Fliegen gesetzt, wobei auch die Hände anfänglich gebunden werden sollten, um solche nicht etwa loßzureissen.

Nachdem ein lederner Gurt mit einem Schloß um den Leib zu legen und ein Strick zur Befestigung an die Bettpfosten herbeigeschaft worden, so ließ ich ihn heraufrufen, Arznei zu nehmen, und der Arzt, der Geistliche und ein Verwandter empfingen ihn im Schlafzimmer.

Wir Eltern waren zu beklemmt, um gegenwärtig seyn zu können, stellten ihm vor, daß zu [30]seinem Besten und zur Tilgung der Hitze im Kopf, die er selbst spürte, spanische Fliegen gesetzt werden sollten, und damit er sich nicht bei der spürenden Unruhe schaden könne, würde er auf kurze Zeit im Bett befestiget werden.

Anstatt, daß man besorget hatte, er würde heftig gegen diesen Vorschlag toben, war er bald willig, zog sich selbst aus, und ließ ruhig alles nöthige machen, worauf ich zu ihm kam, und bei der Versicherung, welche ich auf seine Frage gab, daß diese seine Lage nicht lange dauern würde, befriedigte er sich ganz, und ward auch gleich gegen den wachthabenden Soldaten gesprächig und freundlich.

Wie nach Verlauf einiger Stunden die Würkung der spanischen Fliegen anfing, sagte er es mir, und da ich ihm hierzu Glück wünschte, da dieser anfangende Schmerz ein gutes Merkmal sei, wurde er vergnügt und brauchte dabei die Arzney gelassen und willig. Nachts um zwölf Uhr zogen die Pflaster stark, er wurde unruhig, ließ mich rufen und tobte sehr. Ich redete ihm zu, und besänftigt ihn wiederum; allein gegen Morgen bei dem immer zunehmenden Schmerz brach er in laute Klagen und Schimpfen aus, wollte sich losmachen, und als er Widerstand fand, wüthete er gegen den Wächter, stieß mit dem Kopf an die Wand, und da sein Bette frei gestellet wurde, erboßte er sich so, daß er um sich biß und spukte, so daß noch ein Wächter herzu geholt werden mußte.

[31]

Gegen mich war er aufs heftigste aufgebracht, daß man so mit ihm umginge, ein gleiches gegen meine Frau, und überhaupt konnte man dem Eintritt einer völligen Raserei entgegen sehen.

Indessen nahm er die Arznei willig, nur mußten ihm Hände und Füsse gebunden werden, weil er sich der Pflaster mit Gewalt entledigen wollte.

Wie der Arzt kam, schimpfte er auf ihn, und verlangte einen andern. Nachmittags langte vom Lande sein Stiefgroßvater an, den er stets sehr lieb hatte, der Empfang war ziemlich freundlich, beym öfteren Sehen aber wurde Er ebenfalls mit Anspucken und Schimpfreden behandelt, so wie die Wärter.

Beide Männer, als Kenner der Symptomen dieser Krankheit, der Arzt und der Geistliche fanden nöthig, Schärfe anzuwenden, und es musten Ruthen gemacht werden. Als den dritten Tag früh der Arzt sich ihm näherte, spuckte er ihn an, da er aber von selbigem einige Schmitze auf das Gesäß erhielt, ward er gleich stiller. Der Balbier hatte beim Auf- und Zubinden der Pflaster viel zu schaffen, und mußte er, ohnerachtet daß er im Bett angebunden war, doch noch von beyden Wächtern dazu gehalten werden.

Den Tag über stieß er öfters Schaudern erregende Reden aus gegen Gott und Menschen, und uns Eltern vermaledeyte er bis in Abgrund, den Stiefgroßvater konnte er auch nicht leiden, spuckte [32]jedermann an, versuchte, sich in die Armen zu beissen, auch in die Zunge, jedoch da er Schmerz fühlte, und meinen Ernst sahe, wie man ihn allein lassen würde, ließ er hiermit nach. Unterweilen sprach er auch viel von einem zurückgelassenen Mädchen frölich, die seine ganze Liebe habe, und wollte zu ihr.

Die Wärter musten sich der Ruthe zuweilen bedienen, um ihn ruhiger und folgsamer zu machen; indessen nahm das wüthende Schreyen und Toben immer zu. Am Abend verlangte er ununterbrochen, wieder an den verlassenen Auffenthaltsort gebracht zu werden, wenn es auch in Ketten und Banden wäre; Schimpfen und Drohen ließ die ganze Nacht nicht nach, und die Raserei war äusserst heftig. Der hierauf folgende Tag war wie der vergangene, doch nahm er gehörig die Arzenei. Den kommenden Morgen ließ das Anspucken nach, und die Wächter vermochten mittelst der Drohung mit der Ruthe ihn zu bezwingen, auch bezeigte er sich gegen selbige folgsamer und gefälliger, nur gegen uns stieß er schändliche Reden aus, erzählte auch den Wächtern währender Abwesenheit häßliche Dinge von uns, mit dem Anstrich der Wahrheit. Die Idee der Liebe gegen das erwähnte Mädchen, zeigte sich ebenfalls äusserst lebhaft, wobei es nicht an höchst schlüpfrigen Ausdrücken fehlte. Eine neue Phantasie kam ihm nun in den Kopf, Husar zu werden, wozu er schon das Königliche Patent als [33]Cornet vom König nebst dem Säbel und Tasche erhalten zu haben glaubte, die wir Eltern ihm nur immer vorenthielten und weshalb er wiederholt den Wächtern anbefahl, alles bei uns abzufordern.

Hierzu mochte etwa ein Freund, der ihn besuchte, einige Veranlassung gegeben haben, welcher, durch seinen freundlichen Empfang getäuscht, ihn zur Zerstreuung von diesem und jenem, also auch unter andern vom Soldatenstande unterhalten hatte, das er sogleich mit freudiger Regung ergriff, da er so nun nicht mehr studiren könne, höchstens etwa eine der niedrigsten Stufen bei einem Collegio zu erhalten vermöchte, und also Soldat zu werden das beste sey; und von der Zeit an blieb diese Idee die herrschende während der Krankheit; seine Schlafmütze war die Husarenmütze, die Wärter mußten ihm Knoten in die Haare knüpfen, und wir sollten Pelz, Säbel und Patent überliefern, sonst würde es der Regimentsadjutant abfordern, dem er anbefohlen, es zu holen.

Vielleicht trug der Stand der beiden Wächter, die Soldaten waren, zu dieser Phantasie auch etwas bei. Dieselbe Lage und Aeußerungen verblieben am nächstfolgenden Tage; zeither hatte sich kein Schlaf eingefunden, Tag und Nacht sprach er ohne Unterlaß mit schreyendem Ton von Liebe, dem Soldatenstand, exercirte und kommandirte sehr laut, wobei Schimpfen und Verachtung, ja Haß gegen uns fortdauerte: dieß war indessen die erste Nacht, [34]wo er etwas schlief; doch war sein Schlaf von keiner Dauer und auch von keinem besseren Erfolg; denn beim Erwachen rasete er wie vorher fort, mitunter äußerte er onanitische Wollusttriebe, und die Unterlassung mußte mit Schärfe bewirket werden, sang lustige Arien und war Husar und unser Verläumder, vertraute den Wächtern Wahrheiten und Unwahrheiten an, und blieb gegen selbige meist gut gesinnt, wenn sie auch zur thätigen Bestrafung geschritten waren.

Am zehnten Tage riethen Arzt und Prediger an, wir Eltern sollten uns nicht vor ihm mehr sehen lassen, wenn er auch noch so heftig nach uns verlangte: dieß geschah, und er schickte mehrmalen nach uns, schrie heftig, daß wir kommen sollten, und lermte den Tag über wie sonst bis in die Nacht ohne Unterlaß, und schlief darauf einige Stunden.

Am eilften Tage nahm er ein abführendes Pulver früh, welches Abends wirkte, die spanischen Fliegen wurden geschärft, und die rasende Wuth fing an, sich zu mindern. Diesen Nachmittag ward er weichmüthig, wünschte uns zu sehen, sprach von Sterben, als etwas, das gewiß erfolgen würde, sehnte sich nach mir vorzüglich, doch immer im alten verworrenen Zustand, und abwechselnd mit Weinen und Lachen, und Untermischung eines frölichen Liedes oder Gesanges.

Der darauf folgende Tag war ziemlich ruhig, auch die Nacht: Nur Liebe, Wollusthang und der [35]Soldatenstand blieben seine Hauptideen und Empfindungen.

Am dreizehnten Tage wurde er wieder unruhiger und lermender, allein die Nacht schlief er etwas. Der vierzehnte war äußerst schlimm, vom Morgen an bis auf den Abend um neun Uhr rasete und plauderte er, ohne nur minutenlang zu schweigen; dann betete er auf seine sonst gewöhnliche Weise, und schlief von zehn bis gegen vier Uhr.

Das den fünfzehnten Tag eingenommene Abführungsmittel wirkte dießmal gut, und sein zwar beständiges Plaudern ward gelassener, und der Husar kommandirte nur gemach und hieb gegen die Türken nur schwach ein. Diese Ruhe dauerte aber nur bis gegen Abend, anstatt zu mediciniren wollte er Obst und überhaupt Essen: da er solches nicht bekam, schimpfte er auf uns wieder los, mischte lustiges Zeug mitunter, und foderte endlich die Arzeney, nahm aber das hernach angebotene Essen nicht an. Bis Nachts gegen zwölf Uhr war er gegen die Wächter äußerst muthwillig, doch ein paar Ruthenschmitze verschaften Stille und Schlaf bis Morgens um sechs Uhr.

Am sechzehnten Tage hielt ein ruhiges Betragen bis um vier Uhr Nachmittags an, dann schlief er zum erstenmal im Tag drei Stunden sanft, blieb bis vier Uhr Morgens auf gleiche ruhigere Weise wach, und wachte so früh gegen sechs auf, nahm seinen Thee und Arzenei gut zu sich, fiel Nach-[36]mittags in einigen Schlaf, erwachte aber mit Heftigkeit um vier Uhr, stieß die Medicin drei Stunden lang von sich, wüthete laut, und ihm mußte mit Hülfe der Ruthe die Arzenei beigebracht werden. Um sieben aß er Suppe, mußte nachher wieder durch Schärfe zum Einnehmen bewogen werden, worauf er von zwölf bis fünf Uhr schlafend zubrachte.

Den 18ten bis den 23sten Tag blieb abwechselnd die alte Lage, das Abführungsmittel wirkte nicht nach Wunsch, und die gewöhnliche auflösende Medicin mußte noch nicht genugsam eingegriffen haben: er fing an, dieselbe auch völlig überdrüßig zu werden, und der Arzt änderte beides ab; er bekam nun Tropfen und Pillen, und nun ging es mit dem Einnehmen und der Oefnung besser; der verworrene Zustand indessen und das unabläßige Plaudern Tag und Nacht dauerte fort; allein mehr lustig und frölich wie mürrisch. Mit den Wächtern ging er als Soldaten freundlich um, hingegen gegen die Dienstbothen war er das Gegentheil. Der Schlaf bei Nacht fand sich zu vier bis sechs Stunden ununterbrochen ein, und er erwachte auch meist heiter, bis wenn die Fliegenpflaster geschärft waren und die Bevestigung am Bett mittelst des Gurtes um den Leib ihn böse machte.

Am 24sten Tage kam unvermuthet vom Lande der Großvater zu ihm; er war den Morgen über wild gewesen, doch hatte er seine gewöhnliche Kost, Suppe, gekocht Obst und ein Butterschnittchen mit [37]Appetit gegessen, an dem es ihm überhaupt nicht fehlte. Um zwei Uhr empfing er den Besuch sehr vergnügt, sprach mitunter ordentlich und verlangte kurz darauf wieder Essen: weil ihm wegen des Medicin-Gebrauchs solches nicht gegeben werden durfte, fing er sogleich wieder an, zu schimpfen und zu lermen, welches sich in heftiges Weinen fünf viertel Stunden lang abänderte, wobei er über heftiges Kopfweh klagte, wieder vom Sterben sprach und viel Wasser mit Himbeeressig vermischt trank. Hierauf ward er ruhiger und brauchte auch willig Arzenei. Als er um sieben Suppe gegessen hatte, wollte er die Butterschnitte nicht nehmen, weil sie zu klein, und selbige von schwarzem Brod oder Semmel seyn sollte; tobend schrie er darnach, und die Ruthe mußte wieder herbeigeholt werden, worauf dieser vorher weinerliche und hernach lermende Paroxismus sich in volle Lustbarkeit verwandelte, und er stark und viel lachte.

Der Großvater ging hierauf wieder zu ihm, den er gut empfing, aber viel untereinander schwärmete, und erst am Morgen um vier Uhr einschlief. Zwei Tage drauf gingen ziemlich ruhig vorüber, so auch die Nächte, und es fanden sich anhaltendere, zusammenhängendere Gedanken ein. Hierbei fällt mir die Bemerkung ein, von dem außerordentlich feinen Gehör, so wie der lebhaften Einbildungs- und Erinnerungskraft, die er auch bei dem heftigsten Paroxismus zeigte. Sehr oft ging ich ohne [38]Pantoffeln an seine Stubenthür zu horchen, sofort ward er vermuthlich durch die leise Eröfnung der Thüre mich gewahr, redete dann oft gegen mich unanständig, und das einemal rief er laut aus: »Horcher an der Wand, hören ihre eigene Schand.« Meinen Gang auf dem Saal hörte er sogleich, und rief mich dann oft zu sich, welches aber, wie erwähnt, untersagt war. Eben so genau behielt er früh die Nahmen der beiden Soldatenwärter, welche täglich abwechselten, und wenn sie wiederkamen, rufte er sie sofort wieder bei ihren Namen, bemerkte auch augenblicklich ihre Leibes- und auch wohl Geistesmängel, satyrisirte darüber und hänselte sie ihrer Schwächen wegen. Einer von ihnen hatte was gelernt, und redete ihm mehrmalen zu, unterhielt ihn auch von Schulkenntnissen; den konnte er niemals leiden, vermuthlich wegen seiner Vorzüge.

Der 27ste Tag war wieder mürrischer und das beständige Sprechen nicht so laut, indessen begleiteten ihn sechs Oefnungen, und er schlief darauf acht Stunden, worauf ein ruhiger Tag erfolgte, auch Nachmittagsschlaf, nur wurde nachher sehr viel geplaudert und oft dabei gespucket. Nun öfnete sich der Leib immer fünf bis sechsmal. Nach vierstündigem Schlaf erwachte er den 29sten Tag lustig und singend; da aber der Arzt zu ihm kam, ging Schimpfen und Toben wieder an, und der Soldatenstand war wieder die Lieblingsmaterie. Zunge und Verwirrung blieben außerordentlich ge-[39]läufig, erst früh gegen fünf Uhr schlief er zwei Stunden, hatte die Nacht häufig sein klares Wasser getrunken, und der 30ste Tag verging stiller und besser. Eine sehr ruhige Nacht mit neunstündigem Schlaf verschafte ihm den folgenden Tag Ruhe, und er blieb lustig und guter Dinge, und lachte viel. Hingegen schlief er diese Nacht gar nicht, blieb aber am 32sten Morgen gelassen, doch Nachmittags kam wieder ein halbstündiges Lermen beim Einnehmen, hernach ward das verlassene liebe Mädchen der Hauptgegenstand des Sprechens.

Nach sieben Stunden Schlaf wachte er auf, und man fand, daß er den Haken am Gurt losgerissen hatte, so daß das Schloß nicht mehr bevestiget war, welches er sich ruhig wieder verbessern ließ, auch sich furchtsam bezeigte, daß solches vorgefallen sey. Inzwischen begegnete er dem Arzt trotzig, und das Schimpfen ging wieder an, welches abwechselnd dauerte, bis auf den Abend, wo die Ruthe und das Händezusammenbinden Stille verschaffen mußte. Von ein Uhr bis gegen sechs hatte er geschlafen, doch vorher eine ganz neue baumwollene Mütze in zwei Stücke zerrissen, und die Wächter ziemlich vexiert mit Heraus- und Hereinheben ins Bett.

Den 34sten Tag fing er wüthend an; dieß dauerte bis auf den Abend so, und Schärfe mußte angewendet werden. Einer guten Nacht folgte ein ruhiges Erwachen, und man vermochte, ihm ruhig [40]am Fuß eine Ader öfnen zu lassen, welches guten Erfolg hatte, so daß der 36ste Tag stille anfing, aber bei der Mittagssuppe war das Butterbrod zu klein, es wurde weggeworfen, da aber kein grössers erfolgte, aß er es gelassen. Den Abend besuchte ihn sein Freund der Geistliche, und die Unterredung war höflich, jedoch verwirrt. Der heftige Paroxismus hatte den nächsten Tag sich fast gar nicht gezeiget, und der Abgang blieb zeither so reichlich, als wenn er täglich sechs volle Schüsseln zu speisen kriegte.

Am 38sten Tage wollte er mit dem Arzte gar nicht sprechen, und versteckte sich unters Bett; indessen verfloß er ziemlich ruhig. Vor dem Einschlafen ward er bis ein Uhr wieder sehr laut, begehrte eine Aderlaß, doch schlief er hierauf fünf Stunden. Vorher aber hatte er das Schlößchen am Gurt wieder losgesprengt, und selbigen diesen Morgen völlig aufgeschnallt. Mit Schimpfen ließ er die Bevestigung geschehen, mußte wieder mit Gewalt zum Einnehmen gezwungen werden, und bis Nachmittags drei Uhr wüthete er gräßlich. Nachher sprach er mit den Leuten viel, wurde lustig, und auf Bitten brachten ihn die Wärter auf einen Stuhl ans Fenster, wo er eine Stunde vergnügt saß, und sich wieder willig niederlegte, auch dieser 39ste Tag gelassen beendiget wurde.

Mit heftigem Lermen wachte er am 40sten Morgen um 5 Uhr auf, daß wir ihn vernehmlich [41]im andern Zimmer hören konnten; nachdem er Thee getrunken und etwas Semmel gegessen, beruhigte er sich bis um acht Uhr, dann ging es wieder los, der Barbier konnte beim Fliegenpflasterverbinden nicht fertig mit ihm werden, gegen den Arzt, so nachgebend dieser sich auch bezeigte, war er äusserst mürrisch und drohend, aß außer der Suppe nichts und klagte über Kopfweh. So dauerte es bis um zwei Uhr, wo er zu weinen anfing, traurig wurde, und auch von gewissem baldigem Sterben sprach; keine Medicin nahm er mehr, und als der Zwang ihn dazu brachte, spuckte er sie erst weg, dann schluckte er sie zwar hinunter, brachte sie aber mit dem Finger im Halse wieder hervor, und brach sie mit Ungestüm nebst dem zu sich genommenen Obst fort. Um fünf Uhr ging das Weinen wieder an, er stöhnte viel und wollte sterben. Da der Arzt gern ein Clystier beigebracht haben wollte, so wurde er durch den Barbier, der durch Ernst und Scherz über ihn am meisten vermochte, dazu gebracht, doch unter dem Versprechen, ich sollte zu ihm kommen, welches diese Wochen her, auf Geheiß des Arztes, noch nicht geschehen war, so oft er auch gut und hart darnach verlangt hatte; auch die Mutter wünschte er den Abend zu sehen. Diese Zusage ward geleistet, wenn er sich würde ruhig haben ein Clystier setzen lassen, und nach geschehener Sache, die gut wirkte, kam ich allein zu ihm, umarmte ihn zärtlich, und ward freudig empfangen.

[42]

Vorher, ehe das Lavement gesetzt wurde, richtete er sich auf, hielt eine Predigt über die Unsterblichkeit der Seele, vollständig mit Einleitung und richtiger Eintheilung, auch Beobachtung des Gesanges, wie gewöhnlich. Mit philosophischen Gründen fing er den Beweis an, blieb eine Viertelstunde lang in der Ordnung, dann mischte er verwirrte Geschichte darunter, beschloß aber mit einer guten Anwendung.

Die Mutter folgte auf sein Verlangen mir nach, und er begehrte, daß ich ihm Lieder vorlesen sollte, worüber er um eilf Uhr einschlief und früh um sechs Uhr sein vorgeschriebenes Frühstück wohlschmeckend genoß. Um sieben war die Einnehmezeit, welches er von mir annahm, und bis Mittags um eilf Uhr sanft schlief, daß auch der Arzt, ohne ihn zu sprechen, wieder wegging. An diesem 41sten Tage bekam er zum erstenmal Kalbfleischsuppe, beides schmeckte ihm gut. Er schlief gut, nur weigerte er den Arzneigebrauch des Morgens, bis ich dazu kam, und war er diesen Tag über nur wenig mürrisch. In dieser Nacht versuchte er wieder — was schon mehrmalen geschehen war — die spanischen Fliegen loszubinden, und dieß gelang ihm zuweilen heimlich, so genau auch die Wächter aufpaßten; er hinterging sie oft, denn viele List und Verstellung war überhaupt bei seinem Betragen.

Weil er am 43sten Tage wiederum von den Leuten nicht einnehmen wollte, drang ich darauf, und [43]er folgte nachher immer. Am darauf folgenden, weil ich bemerkt hatte, daß die hellen Zwischenräume zunahmen, sich auch die anhaltende Soldatenidee, wenigstens in meiner Gegenwart, wo er stets ansichhaltender war, verwischte, legte ich ihm Gemälde und Kupferstiche vor, die er mit Vergnügen durchsah, und vorzüglich über die rothe Farbe eines kleinen Bildes heitere Empfindung äußerte, und sich lange dabei verweilte; bei den Kupferstichen ging es hurtiger, und es sollte immer Abwechselung kommen. Des Abends sprach er zu meiner unausdrückbaren Freude lange zusammenhängend mit mir; wir spielten Karten, zogen Dame, und alles geschah mit wenigen Fehlern. Auch mit dem Arzt hatte er sich gut unterhalten. Sowohl am Tage als die Nacht drauf erquickte ihn der Schlaf, und der 45ste Tag blieb dem vorigen gleich, insbesondere so lange ich bei ihm war; alsdann fing er mehr mit den Leuten allein zu reden an, und delirirte wieder, nur alles gemäßigt. Die zwei nächsten Tage wurden etwas mürrischer und verworrener zugebracht, allein im Ganzen ging es doch vorwärts.

Am 48sten Tage ward er zum erstenmal am Stocke von den Wärtern im Zimmer herumgeführt, und die Schwäche war nicht so stark, als man besorget hatte. Weil er den Tag über viel geschlafen, war er des Nachts unruhig, und hatte die Karten alle aufgelöst und zerrissen: jedoch erwachte er heiter, wollte wieder herumgehen, beim [44]Aufsteigen bildete er sich aber ein, der eine Fuß sey durch die spanische Fliege kürzer geworden, und wollte nicht auftreten. Viel Ueberredung kostete es, um ihm vom Gegentheil zu überführen; endlich gelang es, und er ging selbst ohne Stock eine Stunde lang auf und ab, bezeigte sich gegen den Arzt sehr gesittet, der Zusammenhang im Reden wuchs an, die Ueberlegung äußerte sich merklich, und so wurden fünf Tage mit Gehen, Sprechen, guter Wirkung der öfnenden Mittel, geschmackvollen Appetit und sanftem Schlaf trostvoll zugebracht.

Den 54sten Tag wollte er sich selbst gern mit etwas beschäftigen, hatte schon vorher eine Stunde im Kinderfreund gelesen, und die Mutter gab Farben, um einen Kupferstich zu illuminiren, wobei gut angefangen, hernach aber nur gesudelt wurde; gegen Abend ward wieder mehr gefaselt, um zehn spielte er mit den Wächtern Karte, allein konfus, ich ließ sie weglegen, und er schlief sieben Stunden. Nach dem Frühstück und Einnehmen ward wieder einige Stunden geschlafen, dann mochten die geschärften Pflaster ihn verdrießlich machen, indessen griff er Nachmittags wieder zum Malen; man wollte ihm bessere Anleitung dazu geben, er widersprach und glaubte es gut zu machen, sprach auch viel und unzufrieden untereinander bis gegen Abend, wo ich mich mit ihm unterhielt und Ordnung im Reden war; doch war die Nacht sehr unruhig und mit Schimpfen auf die Wächter bis drei [45]Uhr zugebracht. Um fünf erwachte er schon wieder. Dieser 56ste Tag ward auch mürrisch verbracht, und wollte er gar nichts vornehmen; der folgende erschien heiter und blieb so. Heute ging er auch wieder viel auf und ab. Eben so verfloß der 57ste.

Am 58sten fiel ihm eine Schreibtafel ein, die er glaubte mitgebracht zu haben, da man sie aber nicht fand, auch ungewiß war, ob er sie bei dem Anfang der Krankheit nicht weggeschenkt hatte — denn die ersten Wochen gab er alles an seine Wärter weg, und man mußte die Sachen verbergen — argwohnte er, die Mama wolle sie ihm nur nicht geben, ward darüber äußerst verdrießlich und hernach gegen den Wärter sehr zornig; indessen ging auch dieß vorüber, und dieß war die erste Nacht, wo nur ein Wächter bei ihm blieb.

Den 59sten stand er schon gegen sieben Uhr auf, ging herum, beschäftigte sich mit Malen und Lesen, jedoch nicht glücklicher als vorher, schlief Nachmittags, und gegen Abend war er beim Besuch seines geistlichen Freundes gut, nur auf die letzt, als ihm derselbe einiges nicht in seinen Kram dienendes anrieth, schwärmte er etwas verdrießlich. Nach einem siebenstündigen Schlaf erwachte er mürrisch, sprach übel aufgeräumt, weinte über ein trauriges zukünftiges Schicksal, und mein Zureden griff wenig ein, denn auch mit meiner Begegnung war er unzufrieden.

So fing der 61ste Tag auch wieder an; er bat mich, ihn sich allein zu überlassen, setzte sich im Win-[46]kel und war ganz Heautontimorumenos. Diesen Tag war der Soldat Wärter, welchen er nie wegen seiner Schulkenntnisse und Ermahnen leiden konnte. Schon seit einer Woche lag er des Tages unangebunden im Bette; einmal ging ich heraus, und weil er gegen mich höchst mürrisch sich betragen hatte, erinnerte ihn der Soldat, wie viel Mühe ich seinetwegen hätte, er solle es besser erkennen u.s.w. Plötzlich fuhr er aus dem Bette heraus, ohrfeigte denselben, und das Mädchen, die just im Zimmer war, erhielt mit dem Strick, der noch am Gurt war, auf Arm und Rücken einige Schläge. Man rief mich, ich konnte nicht sogleich ihn besänftigen; er schrie laut über unanständiges Begegnen der Leute, welches aber falsch war; doch mußte er sich wieder das Anbinden gefallen lassen. Dem herbeigeholten Arzt ward gleichfalls schnöde begegnet, aber wie derselbe befahl, auf die alte Art hart mit ihm umzugehen, wurde er geschmeidiger, zog sich gleich selbst aus, und rührte sich nicht aus dem Bette. Von zwei bis fünf Uhr des Nachmittags schlief er hierauf, war beim Erwachen artig und ordentlich gegen mich, und blieb es so.

Nach einem dreistündigen Schlaf weckte ihn am 62sten Tage ein heftiger Nachtsturm um ein Uhr, der Fensterscheiben entzweiriß, und nochmals um vier Uhr erweckte ihn ein morschgewordenes Stück Gesims, welches von der Stubendecke mit Krachen herabfiel und Staub um und auf sein Bette brach-[47]te; gegen die Wächter zeigte er sich deshalb voll Schreck und Furcht, wie ich zu ihm kam, erzählte er den Vorfall mit Unruhe und Besorgniß mehrerer Gefahr. Anfänglich hatte ich Mühe, ihn zu beruhigen, hernach aber wurde er überzeuget von der Unschädlichkeit für ihn, nahm den Arzt sehr gesittet und freundlich an, las und malte den Tag über mit weit besserem Erfolg wie sonst, und sprach mit mir vernünftig; doch, wenn ich abwesend war — wie schon bemerket worden — ging mit den Leuten wieder das geschwindere Sprechen und auch das unwahre Erzählen von Vorfällen am verlassenen Ort an, nur gemäßigter und schwächer.

Von heut an wurden die Fliegenpflaster weggelassen. Der 63ste Tag war vollständig ein ordentlicher zufriedener Zeitpunkt, und die Selbstbeschäftigungen gingen gut von statten, so wie seine Leibeskräfte merklich zunahmen, welche überhaupt, nach einem so langen heftigen Leiden, nicht allzusehr gesunken waren. Ein siebenstündiger Schlaf verursachte ein fröliches Erwachen und einen vollkommen heitern Tag. Es war mein Geburtstag; gleich früh beschäftigte er sich mit Malen, und da mir das Mädchen gesagt hatte, wie er feines Papier holen lassen, und schon einige Tage vorher bei seinem Vetter Band malen zu lassen hatte bestellen wollen, so vermuthete ich einen Glückwunsch und ließ ihn des Morgens meist allein. Wie wir bei Tisch saßen, schickte er auf einem Teller einen mit [48]Einfassung selbst gemalten halben Bogen, worin beiliegende Reime mit dem Pinsel geschrieben waren.

HORATIUS.

Grata superveniet, quae non sperabitur hora. b


Sie sind vorbei die Stunden
Von jugendlichem Lenz;
Für mich sind sie verschwunden;
Die Rose ist schon hin,

Die einst im Lenz Dir blühte,
Der Sterblichen Gewinn.
Du Rose! o Liebling der Götter,
Des Frühlings größter Stolz.

Du Schmuck der goldgeschmückten Flur!
O, daß die reizende Natur
Am heut'gen Freudenfest
Dich, meinen Vater, krönte!

O, daß Philomele
Mit Silberton
Doch baute ihr Nest!

Ihm müsse Autumnus selbst grünen
An Pallas milder Hand!
Stets sey das Gewebe des Lebens
So glatt, so rosenfarb und licht,
Als möglich ist!

Doch, was soll ich erst wünschen,
Dir alles erst wünschen,
Was Deiner so werth?
Das Glück erst beschweren,
Den Wunsch zu erhören,
Daß Dich es verehrt.

Nur unter Scherz und Küssen,
Muß er Dir froh verfließen

[49]

Der Winter des Lebens!
Nicht sey er vergebens,
Mein Herzenswunsch!
O, träf er doch ein!
Wie froh wollt' ich seyn.

Am nichtvergessenen 17ten Nov. 178-.

Voller Freude wurde er, wie ich ihn gerührt dafür umarmte, und Zähren flossen unsere Wangen herab. Wie eine schöne Sommernacht verfloß dieser frohe Tag eilig, und ein neunstundenlanger Schlaf hatte meinen lieben Genesenden augenscheinlich erquicket. Voll Zufriedenheit erwacht führte ich ihn am 64sten Morgen zum erstenmal in unser Wohnzimmer, wo ihm alles neu war; voll Vergnügen besah er die darin hängenden Bilder und ließ überhaupt viele Neubegierde blicken, sah alles durch, doch hielt er sich bei keinem lange auf. Ich ließ ihn laut lesen, welches mit Bedacht und Empfindung des Inhalts geschah, nur zu geschwind und mit zu lauter Stimme, die aber ihm angemessen der Sache schien.

Eine der vorigen ruhigen Nacht gleiche erfolgte hierauf, und so zwey ähnliche Tage; außer daß er den zweiten Abend, da er Griechisch und Latein mit Emphasi einige Zeit las, und die Mutter ihn davon abrieth, weil diese Beschäftigung noch zu zeitig und zu ernsthaft sey, verdrießlich wurde und in seine Stube verlangte, auch, da ich bei seinem Abendessen verblieb, darüber mit selbiger noch immer haderte; so wie ich bei dieser Gelegenheit eine wi-[50]drige Wendung seiner sonstigen Gesinnungen gegen die Stiefmutter anmerke, die er immer geachtet und geliebt. Diese widrige Gesinnung hatte sich während der Krankheit so fest eingewurzelt, daß es mir Ueberredungskunst und wirklich Mühe gekostet hat, ihn nach und nach ins alte Geleise gegen selbige zu leiten; und lange Zeit erst nach der völligen Wiedergenesung ist es mir gelungen, das alte Zutrauen wieder zu erregen und zu bevestigen.

Der 67ste Tag war wieder mit trüben Wolken umzogen. Noch mußte er auf Anrathen des Arztes den Gurt um den Leib behalten, und des Nachts zu mehrerer Sicherheit an der Bettstelle mit dem Strick bevestiget werden: dieß war ihm schon seit einigen Wochen ein Hauptanstoß gewesen, und da die Fliegenpflaster hinwegwaren, wollte er auch diesen nicht mehr dulden. Oft satyrisirte er über diese Vorsicht lachend, oft aber murrte er auch bitter und wehmüthig darüber; indessen kamen wir der Vorschrift des einsichtsvollen und sicher handelnden Arztes nach. Heut war er gleich des Morgens so gestimmt; Sanftmuth und Ernst vermochten von meiner Seite nichts zu bewirken, theils klagte er laut, theils weinend über diese ihm anscheinende Härte, und als am Abend der Geistliche ihn besuchte, machte selbiger auch mit seinen mancherlei Vorstellungen keinen Eindruck auf ihn, seine Gedanken dünkten ihm die richtigsten; so blieb er, und verließ uns unzufrieden, immer doch mehr [51]mir nachgebend als der Mutter, deren Belehrungen mit Unhöflichkeit erwiedert wurden; und sie beschloß daher, ihn nun ganz gehen zu lassen und gleichgültig sich zu bezeigen.

Er schien den folgenden Tag nicht darauf zu merken, war zwar aufgeräumter, weil der Barbier das Heilungspflaster von den Waden nahm und zum letztenmale bei ihm war, sonst aber betrug er sich, ausgenommen gegen mich, vier Tage lang etwas spöttisch und achtungsloß gegen dieselbe.

Am 72sten Tage schien helle Sonne bei ihm; der Arzt befreyete ihn vom Gurte, und nun zog Zufriedenheit, Folgsamkeit und anständiges Betragen gegen einen jeden bei ihm ein. So dauerte es fort, und die Munterkeit nebst richtiger Ueberlegung wuchsen sichtbar an. Der Gebrauch seiner zeitherigen auflösenden und abführenden Mittel endigte sich am 77sten Tage, wo er stärkende Tropfen erhielt, und Nachts und Tags viel und stärkend alle Tage schlief. Den folgenden Tag fuhr ich mit ihm zum erstenmal aus, Reden und Befragen blieb vollständig gut, und die Urtheilskraft hatte wieder Festigkeit bekommen. Herzlich vergnügt kamen wir nach Hause, und das Vesperbrodt war Nektar und Ambrosia für ihn.

Seitdem blieben auch die verdrießlichen Unterredungen aus; auch die unzüchtigen Reden und Geberden waren weg, wovon er besonders die obscönesten vorgebracht hatte; obschon ich außer allem Zweifel [52]versichert war und bin, weder dergleichen That noch Worte sind je von ihm in seinem natürlichen Zustande vorgenommen worden: gegentheils ist er für seine Jahre noch sehr schamhaft. Gegen uns äußerte er nichts mehr von der Neigung zum Soldatenstand; allein gegen die Wächter und übrigen Leute versicherte er es noch, und wünsche er nur, es mir schon vorgetragen zu haben.

Am 86sten Tage gingen die Wächter ab, und ich legte mich in seine Stube, wo auch die Nacht von nun an alles ruhig ablief, so wie der gute Schlaf die Kräfte merklich stärkte.

Den 89sten Tag ging ich mit ihm zu Fuß spatzieren, und am 92sten that er es in der Stadt allein, ohne daß Furcht oder Blödigkeit nach so langwieriger Stubenhütung bemerkt wurde. Den 94sten ging er mit dem Großvater zufrieden auf den Jahrmarkt, kam mit Beängstigungen nach Hause, die sich aber den folgenden Tag verloren hatten, und so fuhr er fort, seine alten Freunde zu besuchen, die nichts verändertes an ihm verspürten; und endlich wurde er den 107ten Tag von aller Arzenei freigesprochen, mit der Erlaubniß, mit uns die gewöhnlichen Speisen zu genießen, und seine alte Lebensart wieder anzufangen, doch zu ernste Beschäftigungen noch zu vermeiden.

So hatte also dieser schaudervolle Zustand über drei Monate hier gedauret, und wenn ich den vorhergegangenen Tiefsinn in seinem Schulort hinzu-[53]rechne, ist er an acht Monate Patient gewesen. Durch keine ausschweifende Lebensart hat er sich dieß Uebel zugezogen, denn vorerst hat er nie Neigung dazu unter meiner Aufsicht im geringsten spüren lassen; und an dem Schulorte war er bei Verwandten, die genau auf ihn Obacht hatten, und auch nie etwas dergleichen bemerket haben. Im Gegentheil, man hat ihn vom Fleiß zurückhalten und in Gesellschaften oft zwingen müssen, wo er aber denn auch gern war, wenn selbige nach seinem Geschmack waren. — Seine nun täglich zunehmende und daurende Gesundheit war mit keiner Abänderung seiner sonstigen Konstitution verbunden, als daß er die ersten Monate oft stiller wie gewöhnlich war; übrigens nahm er seine Schularbeiten für sich bald wieder vor, und mußte von den mathematischen Beschäftigungen abgehalten werden, nach denen er am liebsten griff.

Da mir hinterbracht wurde, sein Soldatenhang blieb unbeweglich, und er sich gegen mich darüber nicht ausließ, die Gelegenheit indessen entstand, wo ich meinem Oberen über ihn mündlich Nachricht zu geben hatte, so fing ich davon an, und foderte seine wahre Entschließung vorher darüber: das für und dawider wurde ventilirt, und das Resultat blieb dafür. Wie er dieses vom Herzen hatte, ward er wieder munterer, und es wurden Veranstaltungen getroffen, um diesen Endzweck vortheilhaft zu erreichen. Hierüber ging der Frühling und [54]ein Theil des Sommers vorbei, die er sehr heiter und gesellig zubrachte. Er bezeigte sich wirklich munterer und zufriedener, als in seinen jüngeren Jahren.

Um sich im Reiten zu üben, besuchte er seinen Großvater auf dem Lande, that mit diesem verschiedene kleine Reisen, ließ sichs wohl schmecken, und brachte drei Wochen nach seinen mir geschriebenen Nachrichten sehr vergnügt und auch nützlich zu. Ganz unvermuthet kam er mit diesem zurück, weil einige Tage vor der Abreise wieder kleine Anfälle von Ueberspannung und lautem Betragen bei Tag und Nacht bemerkt worden waren, welche vermuthlich durch zu gute reichliche Kost, übermäßige Bewegung bei der Hitze, mathematische und theologische Ausarbeitungen ihren Ursprung herhaben mochten.

Auf eine Aderlaß und die abführenden Mittel wurde sogleich der schlimmere Fortgang gehemmet. Indessen ereigneten sich einige hitzige Auftritte, wo ich Ernst anwenden mußte, um sie zu unterdrücken, und die wieder Spuren vom alten Uebel zeigten. Sie verloren sich aber bald, und Lustigkeit trat an die Stelle, wobei er beim Lesen von Dichtern eine Menge scharfsinniger Anspielungen auf Bekannte extemporirte, und Liebestrieb wiederum äußerte, doch gemäßigt und anständig; sonst spürte man keine Unordnungen, und nach Verlauf von acht Tagen genossen wir wieder der schönen Herbstwitte-[55]rung zusammen vergnügt und wie im gesundem Zustande.

Nur überraschende Hitze übereilte ihn zuweilen bei kleinen Anläßen. Doch wurden überzeugende Proben von Geistesfähigkeit abgelegt, indem er unter andern drei angehörte Predigten zu Hause so umständlich aufsetzte, nach Verlauf einer Stunde darauf, daß der Geistliche sie beim Durchlesen vollkommen seinen gehaltenen gleich fand.

Mein Amt erfoderte in diesen Monaten öftere Reisen aufs Land, wo er reitend und fahrend mich begleitete, vergnügt und artig war, nur zu freigebig sich gegen die Einwohner erwieß, welches seiner Börse nicht angemessen sich befand; doch streute er ohne alles Geräusch und heimlich seine Geschenke aus.

Zuweilen zeigte er in der Stadt beim Grüßen noch zu viel Höflichkeit, ohne den zu bemerkenden Unterschied des Standes; und nur ein Anschein von Beleidigung von jemand veranlaste zu hitzige Gegenbegegnung. In einigen Wochen darauf verlor sich aber dieses alles völlig; und durch ein bei einer gewissen Gelegenheit von mir gegen ihn geäußertes grosses Zutrauen in seine überlegende Beurtheilung ward er sichtlich dahin gebracht, sorgfältig auf sein Betragen gegen jedermann von selbst acht zu haben, und seitdem ist er vollständig der alte gute, gesittete Jüngling. Gott lasse ihn so fortfahren!

[56]

Folgende Anmerkungen will ich noch beifügen: Viel gelitten habe ich, und anfänglich konnte ich mich gar nicht überreden, daß dieses so schrecklich abgeänderte Betragen, und diese Aeußerungen eines sonst so gutgearteten Sohnes, natürliche Ereignisse der Art von Krankheit wären.

Ich kränkte mich innerlich; Verführung am fremden Ort, dachte ich, bringe manche Zote, manches pflichtwidrige Kindesbetragen hervor. Nur seine so oft wiederholten Betheuerungen von längst angewohnter Verstellung, und das lästerliche Ausstoßen gegen Schöpfer und Religion richteten mich auf, da ich ihn bis in das 16te Jahr um mich gehabt und seinen moralischen Charakter genau kennen gelernt hatte, daß es unmöglich sey, so plötzlich vom Guten ins Schlimme überzugehen, um so mehr, weil er die drittehalb Jahre seiner Abwesenheit wöchentlich die besten Zeugnisse von Fleiß und Aufführung von sämmtlichen Lehrern in zugeschickten sogenannten Conduitenzettels bei der achttägigen festgesetzten Conferenz ununterbrochen erhalten hatte. Auch die Funken von sonstiger Zuneigung, Gehorsam und Furcht gegen mich, welche bei den hellen Zwischenräumen durchsprühten, beruhigten mich dann und wann, und Hofnung gewann die Oberhand, da selbige bei dem voll Menschenliebe weisen Arzt, wegen der Jahre des Kranken und seiner mehrmaligen Erfahrung dergleichen Zufälle, nie sank, auch [57]mein guter Sohn werde wieder in seinem natürlichen Zustand zurückkehren.

Meine Vermuthungen der Entstehungsursachen dieser Schaudererregenden Unordnungen in seiner Maschine gehen dahin, daß die Begierde, hervorzuragen — denn von jeher war Ehrbegierde der Haupttrieb zum angestrengten Fleiß — über seine Mitschüler, wo er meistentheils den Preis davon getragen hatte, obschon Naturfähigkeiten nicht die ergiebigsten waren, den Kopf zu sehr angegriffen und hauptsächlich mit zu vielerlei für sich, ohne weise Gradation, überladen hatte. Hiezu trat ein Sterbefall eines geschätzten Freundes, den er in der Krankheit besorgt hatte, auch einige für sein weiches Herz empfindsame häusliche Ereignisse, welches zusammengenommen Nerven und Fibern, die zeither überspannt worden waren, auf einmal herabgeschwächt hatte; wozu noch das zwanzigjährige Alter eines sonst vollen, gesunden Jünglings bei guter Kraft und Enthaltsamkeit, auch manches beigetragen haben mag.

Fast bin ich überzeugt, nicht darüber im Irrthum zu seyn; so wie ich zugleich in diesem traurigen Zeitpunkt noch gewisser geworden bin, wie vielen Einfluß der Mechanismus des Körpers auf die Seelenwirkungen habe, und daß es Schwachheit sey, gleich über Materialisterei zu schreien, [58]wenn der philosophische Physiolog glaubet, daß materielle Dinge durch Mittelursachen etwas über geistige Wirkungen vermögen, und daß mechanische Veränderungen einigen Einfluß auf Denken und Wollen haben. Der körperliche so wie der geistige Theil des Menschen sind beides Theile eines Ganzen, und stehen folglich in der genauesten Verbindung miteinander.

Erläuterungen:

a: Aus dem Griechischen. Jemand, der sich selbst bestraft.

b: Horaz, Buch 1, Epistel 4, Zeile [13-]14: "[Man denke sich, dass jeder Tag sein letzter sei;] die Stunde, auf die man sich nicht freut, wird als freudige Überraschung kommen."