ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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II.

Verrückung aus Liebe.

Anonym

In H.....t lebte noch im Jahr .... ein Fräulein von N....tz, die eine jüngere Schwester bei sich hatte, welche sinnloß war. Diese Person aber ist seit ihrem funfzehnten Jahre in diesen traurigen Zustand gekommen; die ältere Schwester erzählte, daß eine Liebschaft die Veranlassung dazu gegeben.

Sie hatte sich nehmlich wider Wissen ihrer Eltern mit einem jungen Edelmann versprochen, verschiedentlich heimliche Zusammenkünfte mit selbigem gehabt, welches aber den Eltern entdecket worden, die denn diesen Umgang ihr untersaget, und sie an einen andern hatten verheyrathen wollen, gegen den sie vielen Widerwillen bezeugte, und nicht zu bewegen war, seine Bewerbung anzunehmen.

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Während dieser Zeit hat sie noch Briefe mit ihrem Liebhaber gewechselt, auch von ihm verschiedene Präsente erhalten, worunter das einemal Backwerk gewesen, wovon sie noch ihrer Schwester angeboten, die es aber nicht annehmen wollte; worauf sich die Nacht nach dem Genuß dieses Backwerkes eine Art von Melancholie bei dem Fräulein, und einige Tage darnach eine Wuth äußerte, auf die eine völlige Verwirrung des Verstandes erfolgte, die auch bei aller gebrauchten Medecin bei ihr unheilbar geblieben ist.

Die Familie und die Schwester behaupteten zu der Zeit, da ich sie kennen lernte, noch immer, daß in diesem Backwerke etwas müsse gewesen seyn, was der gemeine Mann einen Liebestrank heist. In wie weit diese Sage ihren Grund hat, kann ich als Frauenzimmer nicht beurtheilen, ob ich schon glaube, daß es Betrüger geben mag, die leichtgläubigen Liebhabern und Liebhaberinnen schädliche Sachen als Mittel zu beständiger Liebe verschaffen, die aber dann eine so unglückliche Würkung, als eben diese, verursachen können. —

Doch wieder zu dem Betragen dieser Unglücklichen: da ich sie das erstemal sahe, mochte sie 38 bis 39 Jahr seyn; sie ging frei herum, da sie keinem Menschen etwas zu Leide that, und betrug sich Tage, auch oft Wochen lang ganz ordentlich, indem sie sich dann und wann mit Stricken beschäftigte; hingegen [122]aber war sie auch viele Monate ganz ohne Verstand, sprach bloß von ihren Liebhabern, die sich um sie betrübten, nennte ihre Anzüge, und bot allen, die ihre Schwestern besuchten, einen oder den andern an, nur den rothgekleideten, bat sie, ihr nicht zu nehmen; vermuthlich mußte ihr erster Liebhaber so gekleidet gewesen seyn.

Bei dergleichen Paroxismen genoß sie nichts, außer etwas rohe Erbsen, Hafer oder Weitzen, von welchem Getreide sie immer in ihrem Koffer vorräthig hatte, und oft hat sie zu vierzehn Tagen ohne alle Nahrung zugebracht; schickten wärend dieser Zeit ihr gute Freunde etwas zu essen, so nahm sie es zwar an, aß aber nicht davon, oft aber warf sie es auch dem Ueberbringer nach; eben so wenig sprach sie mit jemand, da sie doch sonst sehr gesprächig gewesen war; sobald sie aber des Abends zu Bette ging, ward sie laut, sang bald geistliche Lieder, bald Arien, sprach viel mit ihrem Liebhaber, änderte die Stimme, als wenn man ihr antwortete, sang alle Stunden dem Nachtwächter nach, und blieb so unruhig bis gegen Morgen, wo sie denn wieder stille ward, außer, daß wenn die Schwester ihr zuredete, sie selbige mit Schimpf und Fluchworten von sich wieß.

Bei diesem starken Paroxismus saß sie beständig in einer sehr unbequemen Stellung auf einem Stuhle, so daß sie die Füße [123]auf den Sitz des Stuhles zog, beide Hände hielt sie an den Kopf und die Ellbogen setzte sie auf die Knie; es war besonders, daß sie in dieser Stellung Tagelang ohne sich zu bewegen sitzen konnte, diese Stellung auch nur die Nacht verließ. —

Nun starb ihre Schwester, die sie bisher bei sich gehabt hatte — da diese Personen kein Vermögen hatten, und meist von andrer Wohlthaten lebten, so ward die Unglückliche zu ihres Vaters Bruder, der als ihr nächster noch lebender Verwandter für sie sorgen sollte, und auch die Vermögensumstände dazu besaß, geschickt; dieser aber hatte sie mit vielem Ungestüm von sich gewiesen, und sie ward wieder zurück nach H......t gebracht, wo sie in das Hospital gegeben wurde; bei dem Tode ihrer Schwester und bei dem harten Betragen ihrer Verwandten hatte sie heftig geweinet, welches sie sonst nicht gethan, da sie nur zwei Leidenschaften in ihrer Thorheit zeigte, entweder viele Freude und Lachen, oder ein mürrisches Betragen.

Schon vor dem Tode ihrer Schwester flüchtete ich mit meinen Eltern aus Schlesien, da die russische Armee durch Pohlen in diese Gegend kam; und ich kann daher nur noch erzählen, was mit dieser Person weiter vorfiel, weil ein Oncle von mir Augenzeuge davon gewesen. Diesen Oncle [124]hatte sich die Unglückliche zu ihrer Zuflucht gewählet, und da derselbe unter dem dortstehenden Regiment gewesen, nachher aber im Orte wohnte, so hatte sie sich nach der Zeit fast immer an ihn gewendet, und ihn mit Aufträgen beschweret. —

In dem Jahre 1759 ward H......t von den Russen in die Asche geleget; währendem Brande lief alles aus dem Hospital, und die unglückliche v. N......tz rettete sich in einen alten Stall, der noch stehen geblieben, und nahe an dem Bartsch-Strome a stand; ob durch ein Ohngefähr oder mit Vorsatz die Thüre dieses Stalles ist zugeschlossen worden, kann man nicht mit Gewißheit sagen; genug diese Person und noch eine Hospitalitin sind 3 Tage dort versperret gewesen, die letztere ist aber gleich den ersten Tag darinn gestorben; mein Oncle, der den dritten Tag nach dem Brande in diese Gegend des Stalles kommt, höret daraus rufen, er gehet näher, und fragt wer dort sey? die N......tz erkennet ihn an der Stimme und bittet, ihr herauszuhelfen, indem sie schon einige Tage eine Todte zu ihrer Gesellschafterin hätte; da kein Schlüssel zum aufmachen da ist, läßt er den Stall aufschlagen, und findet die Leiche schon in der Verwesung, die Fräulein v. N......tz aber in einem ganz vernünftigen Zustande.

[125](Z.E. sie trug, so lange ich sie kannte, einen Rock und Contusch, welche ganz mit allen Arten von Flecken besetzet waren; denn sie nehete sich selbst Flecke von allen Farben, es mochte Seide oder Wolle seyn, wenn sie sie nur habhaft werden konnte, auf diesen Anzug, so daß man von dem würklichen Zeuge, woraus das Kleid bestand, nichts zu sehen bekam, und wie dieser Anzug war auch ihr Kopfputz beschaffen.)

Sie sagt also, wie sie aus dem flnstern Orte kommt: Gott! was habe ich für einen Anzug! Liebster Herr L.... schaffen Sie mir doch eine andre Kleidung, so kann mich kein Mensch sehen, das ist ein Harlequinsanzug.

Da das Hospital stehen geblieben war, so bringt sie mein Oncle selbst dahin, und es werden ihr andre Kleider gegeben; In diesem vernünftigen Zustande ist sie etwa vier Wochen geblieben; mein Oncle war nach diesem Vorfalle bald nach Breslau gereiset, da seine Wohnung mit im Feuer aufgegangen war, um sich dort einige Zeit aufzuhalten; eines Tages gehet er auf der Straße, und hört sich verschiednemal rufen; auf einmal steht die v. N......tz neben ihm, allein wieder in dem alten vielfarbigten Anzuge worüber sie noch ein schmutziges Hemde trug, welches sie in Form einer Enveloppe um sich gehangen, [126]und mit den Aermeln vorn zugebunden hatte. Sie faßt meinen Oncle am Arm, und dieser ist genöthiget, da sie sich fest an ihn hält, sie nur geschwinde in ein Wirthshaus zu bringen, wo er sie den Leuten übergiebt, und sie wieder nach H......t abschickt.

Verschiedene Umstände haben mich daran verhindert, mehr besondere Umstände von dieser Person zu erfahren; so viel ist gewiß, daß sie wieder ganz in ihren Wahnsinn zurückgefallen, und nie völlig hergestellt ist.

Erläuterungen:

a: Die Brycz. Nebenfluss der Oder in Schlesien.