ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: I, Stück: 1 (1783) >  

Nebeneinanderstellung jugendlicher Charaktere.

Seidel, Johann Friedrich

Es ist wahrlich für einen Lehrer, der es gut mit seinen Schülern meint, sehr angenehm, wenn er bemerkt, daß diejenigen, die ihm beim ersten Anschein durch ihre Minen und durch ihr ganzes Aeusseres; oder durch Aufführung und Fleiß mehr als etwas Gemeines und Gewöhnliches zu versprechen scheinen, immer auf dem guten Wege weiter gehn, und seine Vermuthungen immer gegründeter machen.

Daß ihm die gegenseitigen Bemerkungen kränkend und traurig seyn müssen, ist freilich auch wahr; aber es bleibt doch immer noch Hofnung übrig, daß durch irgend ein Etwas in der Folge — es sey später oder früher — eine glückliche Umändrung bewirkt werden könnte. Und diese Hofnung hat bei mir immer das Uebergewicht über die Besorgniß, daß der Bessere eben so leicht verführt und schlimmer werden könnte.

**, der erste, von dem ich im zweiten Stücke des ersten Bandes des Mag. zur Erfahrungsseelenkunde einige Züge seines Charakters, oder vielmehr seiner itzigen Anlagen und Denkungsart anführte, geht noch immer seinen graden Weg fort. Es ver-[108]steht sich, daß seine Seelenkräfte sich mehr entwickelt haben. Sein Fleiß ist immer noch anhaltend, und deshalb bringt er es auch weiter als viele von seinen Mitschülern, die er wirklich hinter sich gelassen hat. In seinem Gesichte herrscht noch ein freundlicher gefälliger Ernst. Wenn ihm irgend etwas unangenehm ist: so weiß er dieß in seinem Gesichte zu erkennen zu geben, ohne daß man seine Mine mürrisch oder verdrüßlich nennen dürfte.

Er empfindet schnell, und mit einer gewissen Lebhaftigkeit, die von der Wärme zeigt, mit welcher er Antheil an demjenigen nimmt, wovon die Rede ist; aber es ist keine flüchtige schnell vorübergehende Empfindung. Er ist schnell in seinen Antworten, und gleichwohl verrathen sie Nachdenken. Eben so schnell lieset er, und man kann aus seinem Tone bemerken, daß er mit Gefühl und mit Einsicht liest.

Seine ganze Denkungsart scheint Ernsthaftigkeit zur Grundlage zu haben. Er nimmt selten Antheil an demjenigen, was um und neben ihm vorgeht, weil seine Aufmerksamkeit immer auf etwas Erheblicheres gerichtet ist.

Seine wörtlichen Ausdrücke verrathen oft etwas Männliches; aber nie eine Empfindung von Stolz, als ob er mehr wisse und etwas besser mache, als andre. Seine schriftlichen Ausdrücke sind eben so, und oft voll Laune. Auch hat er keine gemeine Anlage ein Dichter zu werden. Ich will zum Be-[109]weise davon die letzte Strophe aus einem Gedichte beim Grabe seiner Schwester hersetzen:

Ruh indessen sanft, o Liebe, Beste!

Siehst ja Gottes Angesicht.

Und hier, diese morschen Ueberreste —

Wie? gebrauchst du sie doch nicht!

In seiner Kleidung, so wie überhaupt in seinen Sachen herrscht Ordnung, Pünktlichkeit und Reinlichkeit. Diese letzte übertreibt er nicht bis zur Ziererei; sie scheint ihm vielmehr schon zur Gewohnheit geworden zu seyn, ohne daß er sich viel Mühe geben dürfte, sie zu erhalten. Seine Ordnung und Pünktlichkeit beweiset er auch in seinem Fleiße. Er hat das Aufgegebene gewiß immer zu rechter Zeit fertig, und sicher allemal den meisten Fleiß darauf verwendet. Dabei scheint er alles gern und unverdrossen zu thun, ohne die Mühe zu scheuen, die etwa mit seinen Arbeiten verbunden seyn möchte. Er genießt einer fortdauernden Gesundheit, die ihm ein langes, thätiges und nützliches Leben verspricht.

** dessen ich im zweiten Bande im zweiten Stücke dieses Magazins erwähnt, und von dem ich meine Beobachtungen fortzusetzen versprochen habe, bleibt sich auch noch ziemlich gleich. Sein Auge verräth etwas Schlaues, aber Gutmüthiges, und sein Gesicht eine muntre, blühende und völlige Gesundheit. Er ist unruhig, und muß immer mit [110]irgend etwas zu thun haben, sollte es auch nur sein Hut oder ein Buch seyn, womit er sich beschäftigt.

Alle diese kleine, geschäftige Unruhe hindert ihn aber nicht an Aufmerksamkeit und Fleiß, und wenn er irgend etwas nicht behalten hat: so ist er verlegen, gleichsam als ob er fragen wollte; wie kömmt es doch, daß ich dies nicht weiß, nicht behalten habe? — Diese seine kleine Aengstlichkeit giebt ihm ein drolligtes Ansehn, denn er will nicht gern eine Antwort schuldig bleiben, und deshalb macht er sich, gemeiniglich mit seinem Hute, so viel zu schaffen, als ob er durch diese Thätigkeit seines Körpers um so eher eine richtige Antwort herausbringen würde.

Sein Eifer, weiter zu kommen; eine höhere Stelle zu erhalten und zu behaupten, ist ausserordentlich stark, aber nicht weniger der Fleiß, den er verwendet, um dieß erreichen zu können. »Werd ich versetzt werden? werd ich heraufkommen?« Das sind ihm Fragen von der größten Wichtigkeit; und die reinste, unschuldigste Freude glänzt auf seinem Gesichte, wenn er zu mir kömmt und sagt: ich habe das und das gelernt. In seinem kleinen Eifer geht er wohl so weit, daß er, wenn ihn einer beleidigt, um sich stößt, aber es geschieht sehr selten, und es ist ihm gleich selbst leid, so daß auch fast keine Klage über ihn gewesen ist.

Nur erst kürzlich kam er, und sagte, daß ihn sein Nebenschüler gestossen habe. Ich fragte ihn, [111]ob es auch wohl mit Vorsatz geschehn sey. — Und es war eine herrliche Verwandlung, die mit einemmale in seinem Gesichte vorging. Seine Empfindlichkeit und der Ernst, mit dem er die Sache aufgenommen, war ihm anzusehn, und nun, da ich ihm diese Frage vorlegte, heiterten sich seine Minen auf; sein Auge ging wechselsweise von mir zu seinem kleinen Beleidiger; er lächelte und konnte vor Freuden nichts sagen. Er setzte sich vergnügt nieder, und hielt nun die Sache für völlig abgemacht.

Diese Gutmüthigkeit ist ihm sehr eigen. Auch liebt er seinen Bruder mit wirklicher Zärtlichkeit. Dieser hatte sich einmal gestossen und eine kleine Beule bekommen. Er bedauerte ihn und in jeder Mine war die brüderlichste Theilnehmung aufs lebhafteste gezeichnet. Sanft faßt' er ihn an die Hand und brachte ihn nach Hause.

Wie gern weilt man bei dergleichen Auftritten! Du wirst einmal das Glück deines Hauses und deiner Angehörigen werden! das dacht ich in dem Augenblicke, und denk es noch, so wie ich überhaupt glaube, daß er ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden wird. Auch ist seine häusliche Erziehung gut, und sein etwas jüngerer Bruder hat viel Aehnlichkeit mit ihm.

** von etwa 12 bis 13 Jahren gehört unter diejenigen, die sich durch etwas Eigenthümliches am [112]meisten von andern unterscheiden. Es ist, als wenn eine Legion unruhiger Geister in ihm wohnten und ihn beherrschten. Er kann durchaus nicht still sitzen, durchaus nicht leben, athmen, ohne irgend etwas vorzunehmen.

Seine häusliche Erziehung mag wohl nicht unter die beste gehören; wenigstens müssen seine Eltern wenig Aufsicht über ihn haben, wenig väterlichen und mütterlichen Ernst bei ihm gebrauchen. Auch sind alle seine Unruhen von der gemeinsten und niedrigsten Art. Wie vermag man ihn also — unter so Vielen — zu lenken, zu bessern? Er weiß sein Gesicht auf hunderterlei Art zu verändern, zu verzerren, und stellt überhaupt in seinen possierlichen Anwandlungen einen wahren Harlekin vor. Oft kostet es Mühe, seine Narrheit mit Gleichgültigkeit und ohne Lächeln anzusehn — wenn nur nicht der Gedanke zu ernsthaft wäre, daß er seine eigne Würde erniedrigt; die er aber freilich zu wenig fühlt und zu schätzen weiß, daß er vielmehr gar nichts für ernsthaft und wichtig hält.

Sein Auge verräth Feuer und Lebhaftigkeit, aber seine Minen hat er äusserst in seiner Gewalt, so daß es wirklich schwer fällt, davon irgend etwas Sicheres zu sagen. In seinem Taumel ist jede Nerve, jede Muskel, jede Mine Bewegung und Einklang. Sieht man ihn mitten in diesem Tumult an: so ist mit einemmale alles in Ruhe. Er sitzt da, als ob er ein Träumer wäre, zieht den [113]Mund enge zusammen, und athmet so tief aus der Brust heraus, als ob er über ein großes Unglück seufzte, das ihm zugestossen ist, dem er abhelfen will, und wozu er kein Mittel finden kann.

Wenn man ihn zur Rede sezt: so hat er eine Menge von Entschuldigungen. Wenn er gestraft werden soll: so ist er in tausend Aengsten und seine Furcht ist unbeschreiblich. Er bittet, er liebkoset, sagt in einer Reihe die schmeichelhaftesten, und süssesten Beiwörter her, macht komische Stellungen, Verzückungen, als ob er nicht reden könnte, oder schreit gewaltig und verspricht, es in seinem ganzen, ganzen Leben nicht mehr zu thun. Es ist auch nichts mit ihm auszurichten, denn unmittelbar nach der Strafe gehn seine Tausendkünste wieder aufs neue an; und man kann, denk ich, nichts bessres thun, als ihn von andern entfernen, um ihn näher und allein vor sich zu haben.

Tücke und Bosheit ist bei ihm nicht. Er neckt zwar seine Mitschüler, aber nie auf eine bittre und kränkende Art, und zuweilen hat er wirklich etwas Gutthätiges in seinen Betragen gegen andre. Ich glaube, wenn er bessre Erziehung, frühere und mehr Gelegenheit zum Lernen und mehr Aufsicht gehabt hätte, so hätt' er sich auf irgend eine Weise als Genie ausgezeichnet, da er nun ein Wildfang, ein unruhiger Kopf werden wird, ohne etwas Nützliches in der Welt zu leisten. Es fehlt ihm nicht ganz an Anlage; aber sie hat keine Richtung, kein [114]Ziel. Das, was er weiß, kann er unmöglich bei sich behalten; er muß es sagen und wissen lassen, und sollt es auch noch so sehr verboten und zur unrechten Zeit gesagt seyn — Eigentliche Lust zur Arbeit und eigentlichen Fleiß kennt er nicht. Ordnung und Genauigkeit sind ihm sehr unbedeutende Sachen. Erinnerungen sind völlig unwirksam auf seine Seele, und machen auch nicht auf einen Augenblick einigen Eindruck auf ihn. Daß er ein unrechtes Buch, oder gar keins hat, das ist für ihn so etwas unerhebliches, daß man es ihm ansehn kann, wie er sich wundert, sich darnach erkundigen zu können. Sein Gang ist mehr ein Springen und Hüpfen, als ein Gehen, und auch dann arbeitet sein ganzer Körper, wo die Füsse nur in Bewegung seyn sollten. Wenn es noch Hofnarren oder noch Harlekine auf den Bühnen gäbe: so möchte er durch so einen Posten sein Glück machen können; da aber das nicht ist: so wird er sich damit begnügen müssen, in einem kleinern Zirkel für andre ein Lustigmacher zu seyn. Wahrlich eine elende Beschäftigung! —

Seidel.