ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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II.

<Ein unseliger Hang zum Theater.>

Moritz, Karl Philipp

Einer meiner Freunde hat einen Sohn, den, bei dem besten Herzen, ein unseeliger Hang zum Theater beinahe um die ganze Glückseeligkeit seines Lebens gebracht hätte.

Schon im 19ten Jahr hatte er nach einem zu sehr angestrengten Fleiß in der Geschichte einen Anfall von Hypochondrie gehabt, der einige Monathe dauerte, und worauf eine übertriebene Heiterkeit des Gemüths folgte, die ihn eine Zeitlang zu allen ernsthaften Beschäftigungen unfähig machte.

Er fing nun an, Komödien zu lesen, und gewann diese Lektüre bald so lieb, daß seine ganze Seele von Ideen aus der theatralischen Welt angefüllt wurde. Nun fügte es sich, daß eine herumwandernde Schauspielergesellschaft gerade zu der Zeit in seine Vaterstadt kam, wo er nun das, womit sein Geist sich schon immer bei Tage beschäfti-[118]get, und wovon er des Nachts geträumt hatte, vor seinen Augen wirklich dargestellt sahe. —

Jetzt war er seiner nicht mehr mächtig. Die wirkliche Welt war vor ihm verschwunden, und er lebte und webte bloß in der Theaterwelt.

Sobald er auf seiner Stube allein war, deklamirte er sich die Rollen wieder vor, welche den meisten Eindruck auf ihn gemacht hatten, und schonte dabei seine Stimme und seine Hände nicht.

Sein Vater traf ihn einmal in einer dieser Attitüden an, und bestrafte ihn durch einem Blick, welcher unsern Roscius, der ihn anfänglich nicht bemerkt hatte, in die größte Verwirrung und Beschämung versetzte. — Sein Vater lächelte, und ließ es gut seyn. — Hätte er damals die sehr ernsthaften Folgen dieses Uebungsspiels bei seinem Sohne voraussehen können; er würde wahrscheinlich nicht gelächelt haben.

Der Sohn meines Freundes, den wir D*** nennen wollen, bezog nun die Universität mit dem besten Vorsatze, fleißig zu seyn, aber mit der schlechtesten Anlage, diesen Vorsatz auszuführen, der gar nicht recht mit dem Ideal übereinstimmen wollte, was sich seine Phantasie von seinem künftigen Leben entworfen hatte.

Uebrigens kam ihm das zu statten, daß er Theologie studieren sollte. — Denn nun fing er bald an zu predigen, und konnte doch auf die Weise [119]seinen unwiderstehlichen Hang zum theatralischen Deklamiren in etwas befriedigen.

Ein Grund, der mehr junge Leute zum Studium der Theologie antreibt, als man glauben sollte. — Die Neigungen der Jünglinge werden immer mehr durch die Zeichen der Sache, als durch die Sache selbst gelenkt. Der zierliche Husarenpelz, und der weiße Kragen machen mehr Proselyten, als der Degen und die Bibel.

D*** hatte seine Universitätsjahre vollendet, und sollte sich nun in seiner Vaterstadt zu irgend einem geistlichen Amte tüchtig zu machen suchen. Unglücklicher Weise mußte daselbst gerade zu gleicher Zeit mit ihm wieder eine Schauspielergesellschaft eintreffen. — In mehrern Jahren hatte er nicht Gelegenheit gehabt, ein Schauspiel zu besuchen. — Auf einmal erwachten nun die lange erstickten Vorstellungen und Träume wieder. Die Theaterwelt stand aufs neue in ihrem höchsten Glanze vor seiner Seele da.

Alles übrige wurde ihm verhaßt, die Freuden aus der wirklichen Welt wurden ihm schaal und abgeschmackt. Er sahe keine Aussicht, seinen Wunsch zu erfüllen, ohne seinen Vater zu kränken und zu hintergehen. Auch lag bei ihm selbst die zu schwache Vernunft, mit der stärkern Phantasie, in immerwährendem Kampfe.

Während daß er es versäumte, sich auf der ihm vorgeschriebenen Laufbahn des Lebens weiter zu [120]bringen, hatte er doch auch noch nicht den Muth für sich selbst eine andre anzutreten, die für ihn unendlich viel mehrere Reize hatte.

Verschiedene seiner Freunde, die mit ihm im gleichen Alter waren, und gleiche Aussichten hatten, machten in kurzem ihr Glück. Dieß schmerzte ihn, ohne daß er sich ein ähnliches Glück gewünscht haben würde. Und doch machte er auch keine Anstalt dazu, auf seine eigne Weise glücklich zu seyn.

Weil er nun kein Ziel hatte, worauf die einzelnen kleinen Handlungen seines Lebens, im Ganzen genommen, abzwecken konnten, so ging es ihm, wie einem Wanderer, der einen Scheideweg vor sich sieht, wo er nicht weiß, welchen er wählen soll, und ehe er, weil er schon müde ist, einen Schritt vergeblich thun will, lieber ganz still steht, bis er erst mit Gewißheit erfahren kann, wohin er seinen Fuß lenken soll. — Er wurde gänzlich unthätig, mißmüthig, traurig, schloß sich Tage lang auf seiner Stube ein, scheute sich, Menschen zu sehen, mochte keine Hand bewegen — die entschließende Kraft seiner Seele war gelähmt.

Innigst betrübt über diesen Zustand drang sein Vater einmal auf das heftigste in ihn, und brachte das lange verhaltne Geständniß von ihm heraus, er habe eine unüberwindliche Neigung aufs Theater zu gehen, und diese mache ihn unglücklich.——

[121]

In dem Zustande reiste er zu mir, um sich einige Monathe bei mir aufzuhalten. — Ich war erstaunt, als ich ihn sahe, über die Niedergeschlagenheit seines Gemüths, und die Unentschlossenheit seiner Seele. Manche Stunden war kaum ein Wort aus ihm zu bringen.

Wir bezogen zusammen einen Garten, aus welchem wir nicht weit aufs freie Feld hatten. Kein Morgen wurde versäumt, wo wir nicht spatzieren gingen, und kein Abend, wo er nicht die Komödie besuchte.

Er fand allmälig wieder Geschmack an den Schönheiten der Natur, und so wie wir aus der heitern freien Luft zurückkehrten, hatte sich auch seine Seele wieder etwas ermannet, und es war wieder einige Elasticität und Festigkeit in seinen Entschließungen, sie mochte nun die theatralische oder gelehrte Laufbahn zum Augenmerk haben. — Da erwachten auch oft die Regungen der kindlichen Liebe in ihrer ganzen Stärke wieder, und er vergoß oft Thränen der Wehmuth über die Kränkung, welche er seinen Eltern verursachte.

Ich that dabei nichts weniger, als daß ich ihn von dem Entschluß, sich dem Theater zu widmen, oder von dem täglichen Besuch der Komödie hätte abrathen sollen.

Oft war er am Morgen, wenn wir aus der großen, und wahren Natur zurückkehrten, fest entschlossen, seine alte Phantasie ganz fahren zu [122]lassen, sich einem thätigen und gemeinnützigen Leben zu widmen, und seinen Eltern ihren Kummer, den sie seinetwegen erlitten hatten, auf die Weise wieder zu vergüten —— und am Abend, wenn er aus der Komödie, aus der so oft läppisch überspannten, oder winzig entstellten Natur auf dem Theater, und besonders etwa aus einem Stück, wie die Räuber, zurückkehrte, so war alles wieder verschwunden, die innere Unruhe, die Unentschlossenheit in seiner Seele war wieder da, sein edleres Selbst war aufs neue verdrängt.

Es kam nun darauf an, was bei ihm den Sieg behalten würde. — Denn irgend ein Entschluß mußte doch einmal gefaßt werden.

Auch durften beide Gewichte nicht zu leicht gegeneinander seyn, wenn das Uebergewicht sich bleibend auf irgend eine Seite lenken sollte. —

Sein Vergnügen an dem reinen und edlen Genuß der Natur nahm täglich zu — und seine Seele wurde nun ruhiger, da er von seinem Vater die Erlaubniß erhielt, aufs Theater zu gehn, wenn seine Neigung dazu schlechterdings unüberwindlich wäre.

Es hing also nun völlig von ihm ab, seinem sehnlichen Wunsch vollkommen ein Gnüge zu leisten. — Er schrieb wegen seines Engagements an die Direktion einer Schauspielergesellschaft, und während daß er die Antwort auf diesen Brief erwarte-[123]te, wurden die Spaziergänge des Morgens und der Komödienbesuch des Abends immer fortgesezt.

Die Beruhigung, welche durch seine jetzige Lage in seiner Seele entstand, schloß sein Herz immer bessern Gefühlen auf; und da ihn nichts mehr abhielt, seine Wünsche zu erfüllen, so fing er allmälig an, nicht mehr hin und hergezogen zu werden, sondern selbst die erneuerte Elasticität seiner thätigen Kraft zuweilen zu versuchen.

Allein ich traute diesem betrüglichen Anschein nicht, sondern suchte nun aus allen Kräften seinem Entschluß zum Theater das Uebergewicht zu geben, um am Ende entweder einen vollkommnen oder gar keinen Sieg zu erhalten, da er überdem in keinen schlimmern Zustand, als diesen einer ewigen Unentschlossenheit gerathen konnte.

Die Antwort der Schauspieldirektion kam an, mit dem Anerbieten eines sehr vortheilhaften Engagements, welches aber binnen vierzehn Tagen sollte angetreten werden.

D*** war zwar vergnügt hierüber, aber seine Freude war lange nicht so ausgelassen, wie ich erwartet hatte, da dieser Brief doch nun alle seine Wünsche krönte.

Auf unsern Spaziergängen, die bis zum Tage seiner Abreise fortgesezt wurden, unterhielten wir uns nun beständig von seiner künftigen Lebensart, und der Laufbahn, die er nun antreten sollte; und ich [124]merkte beständig, daß er immer aufmerksamer und nachdenkender wurde, jemehr ich ihm die angenehme Seite davon zu schildern suchte. — Seine Denkkraft war wieder thätig geworden — er überlegte, er verglich —.

Wir sprachen dabei von seinen Eltern — ich stellte ihm vor, wie gut es sey, daß er doch auch nun die Erlaubniß seines Vaters zu diesem Schritte habe — auch das machte ihn nachdenkend — die reinen, die edlen Empfindungen der kindlichen Liebe waren kräftiger in seiner Seele erwacht — er entschloß sich, die sanften Charaktere, wozu ich ihm gerathen hatte, künftig zu seinen Lieblingsrollen zu machen, statt daß er sonst immer für das fürchterlich Tragische und Schreckliche gestimmt war.

Er fing an, auf das Solide, auf den Unterhalt, auf das Fortkommen im Alter bei seinem künftigen Stande zu denken.

Er kam mit Abscheu und Widerwillen zurück, da er eines Abends die Räuber hatte aufführen sehn, und fand mehr Geschmack an den rührenden und sanften Stücken, und allem was der Natur näher kam, aus derer Betrachtung seine Seele am Morgen des Tages neue Kraft und Nahrung gesogen hatte.

Der Tag seiner Abreise kam heran. Während diesen Spaziergängen am lezten Morgen war er erst still und nachdenkend, dann leuchtete auf einmal eine ungewöhnliche Heiterkeit aus seinem Gesicht hervor; mit dem Ausbruch der innigsten Freu-[125]de fiel er mir um den Hals und sagte: Ich gehe nicht aufs Theater, ich reise zu meinen Eltern. — Ich traute noch nicht, sondern suchte ihn durch die stärksten Gegengründe wieder zu seinem ersten Entschluß zurückzubringen. Allein er reiste denselben Tag noch zu seinen Eltern ab, die ihren Sohn, der nun gänzlich von seiner Phantasie geheilt war, mit ofnen Armen empfingen.

M.