ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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I.

<Brief aus Güstrow.>

K., J. H.

(Der folgende Brief enthält, ohngeachtet des Schwärmerischen und Einfältigen im Ausdruck, sehr vernünftige Gedanken, und ist um so merkwürdiger, weil er von einem Unstudirten zu kommen scheint, der bloß nach seinem richtigen Gefühl, ohne vorgefaßte Meinungen, urtheilt.)

Güstrow im Mecklenb. 1783 Nov. den 9ten.

Sagen möchte ich Ihnen gern mehres, als ich durch Briefe zu Ihnen tragen lassen kann. Sie zu besuchen, wollen meine Umstände nicht zulassen, also übersende ich Ihnen diesen Brief.

October den 27sten kam mir unvermuthet das erste Stück des ersten Bandes von dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde zu Händen, was darinnen von der Seelenkrankheitskunde und von der Seelenheilkunde gesagt wird, ist mir vorzüglich wichtig, weil ich selbst seit kurzer Zeit, von einer neunjährigen Seelenkrankheit, durch meines gütigen Schöpfers und Erhalters Beystand, (bis auf kleine Anfälle) gesund geworden bin.

Der ein, die Seelenkrankheit der Menschen, heilender Arzt seyn will, (ich meine, Einer, der die unsaubern mit Fäusten schlagende Satans-En-[116]gel, aus Seelenkranken Menschen heraustreiben will,) muß nothwendig die Seelenkrankheit erst selbst überstanden haben, das heißt — Er muß mit seinem gütigen Schöpfer und Erhalter, und mit sich selbst im festen Frieden stehn, er muß daneben vielfältige Menschenkenntniß haben, und ein scharfsichtiger Beobachter der Menschen seyn.

Seelenkranke Menschen, bei denen entweder übertriebne Liebebegierde oder übertriebne Ehrbegierde (eine Begierde, für der andern starke Macht hat,) die müssen entweder von der Liebebegierde zur Ehrbegierde, oder umgekehrt, durch Kunst des Arztes übergelocket werden.

Bei denen also, wo Liebebegierde und Ehrbegierde ohngefähr mit gleicher Macht herrschen, denen muß der Arzt durch scherzhafte Erzählungen und lustige Begebenheiten, die Seelen in Bewegung bringen, und durch wohlthätige Erzählungen und lobenswürdige Begebenheiten, die Seelen erweichen, (er muß die Gedanken bei ihnen vervielfältigen,) sie zum Umgange mit allerley Menschen wieder gewöhnen, und sie zu beständigen Geschäften anweisen, er muß sie überführen, daß auf der Welt nichts ist, das eine übertriebne Liebe werth sey, daß übertriebene Ehrbegierde Unsinn, und Laufen zum Nachruhm — Raserey sey, er muß sie oft an die kurze Dauer des zeitlichen Lebens erinnern.

Alle Seelenkranke Menschen hegen unzufriedne Gedanken gegen ihren gütigen Schöpfer und Er-[117]halter, und gegen sich selbst. Als überflüsig will ich nur erinnern, daß der Arzt, auch nicht mal den Schein des Arztes von sich blicken lassen darf. Ich wünsche von ganzer Seele — und hoffe, daß viele Menschenkenner die Kunst — Seelenkranke Menschen zu heilen, gründlich zu erforschen suchen, und der Welt bekannt machen werden.

J. H. K.