ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: I, Stück: 1 (1783) >  

IV.

Auszug aus einem Briefe des fürstlich K-ischen Wundarzts J. an den Herrn Pastor R.

J.

Ich muß Ihnen sagen, daß wir einige Hofnung hatten, Ihre Tante*) 1 wieder herzustellen, aber [32]sie ist uns zuvorgekommen, und ich habe aufs neue gesehen, wie gefährlich eine Nervenkrankheit werden kann, und welch eine vorsichtige Behandlung sie verdient.

Sie sind zu sehr Philosoph, als daß ich vor Ihnen verbergen sollte, wie sie starb; ich hoffe, ich werde Ihnen dadurch einen Beitrag mehr zu Ihrer Geschichte der menschlichen Schwachheit liefern, wovon Sie eine so nützliche Sammlung besitzen.

Am Sonntage gegen 11 Uhr kam Ihrer Tante Mann aus der Kirche zurück, und fand sie in der Küche im Blute. Sie hatte sich mit einem Hackemesser die linke Hand ziemlich durchgehauen, und einige tiefe Hiebe in die Brust und Schläfe gegeben.

So hatte sie zwei Stunden gelegen, und als ich gerufen wurde, war sie schon ganz todt.

So viel ich von ihr selbst weiß, hat sie bis in ihr 25stes Jahr keine Anfälle von Krankheiten ge-[33]habt. Beim Anfang ihrer Ehe bekam sie Reißen in Füßen und Schultern, und ein Spannen und Stechen auf der Brust.

Der Doktor F., ihr erster Arzt, hielt dieß für Vorboten der Schwindsucht ― ließ ihr alle vier Wochen zur Ader, und brauchte lindernde Mittel für ihre Brust. Durchs Aderlaßen wurde sie immer schwächer, und man mußte nachlassen.

Professor V., ihr zweiter Arzt, fand sie schon in der größten Nervenschwäche, er ließ sie Baden und verordnete andre dienliche Mittel. Bei dem Baden fand sich ein starker Speichelfluß, und sie befand sich nach jedem Bad allemal besser als vorher.

Jedoch spürte man noch keine sonderliche Besserung. Als ich sie vor einem Vierteljahre kennen lernte, war es schon sehr weit mit ihr gekommen. Bei jeder etwas starken Bewegung bekam sie Ohnmachten. Töne, die nur mittelmäßig stark ausgesprochen wurden, verursachten Verzuckungen und fuhren bis in die Fingerspitzen, und bei einem Konzert war ihr nicht anders, als ob ihr Körper an allen Theilen auf einmal elektrisirt wurde; sie mußte laufen, so weit sie konnte.

Oft weinte sie über die geringste Kleinigkeit, oder auch über nichts ― sprach oft für sich ― und betete zu Gott um ihren Tod. Man konnte in ihre Stube kommen, um sie herumgehen und etwas wegnehmen, ohne von ihr bemerkt zu werden, und wenn man Geräusch machte, so gestand sie nach-[34]her, daß sie zwar unangenehme Empfindungen gehabt, aber ohne zu wissen, woher?

Wenn sie mich nach einiger Zeit endlich bemerkte, fuhr sie wüthend auf mich los, und man mußte alle Vorsicht anwenden, sie zu sich selbst zu bringen. Waren diese Paroxismen vorbei, so sagte sie ganz ermattet: ach ich sterbe, ich sterbe ― dann wurd sie ganz still, legte sich aufs Bett und bekam ihr gewöhnliches Fieber ― dann schlief sie gewöhnlich ein. Bei ruhigen Stunden sprach sie gern von geistlichen Dingen, und hörte gern Schwärmereien von der Ewigkeit erzählen.

Oft war sie eigensinnig und schalt die Mägde, aber nach einer Viertelstunde bereuete sie es bitter, weinte über sich selbst und schilderte ihr Unglück auf das rührendste.

Endlich wurde ihr Fieber immer stärker, und ihr Zustand kam mir sehr gefährlich vor. Jedoch gab es Tage, wo sie denen, die um sie waren, stark vorkam. Am letzten Sonntag war ihr Mann in der Kirche ― sie schickte die Magd weg, und wollte die Küche selbst besorgen. Das Weitere wissen Sie.

Man fand auf ihrem Arbeitstische verschiedne Zettelchen, worauf sie einigemal geschrieben hatte: Adieu, adieu; ich sterbe seelig, ich verzeih Euch allen. ― Sehn Sie, liebster Freund, so ist meine schreckliche Lage! ― Ich sehe hieraus, daß ihre Phantasie immer schwärmerischer geworden.

[35]

Ihr Mann kam ihr zu gleichgültig vor; den mehresten, die sie umgaben, war sie lästig, denn sie hatten weder Geschicklichkeit noch Aufmunterung genug, sich in eine Eigensinnige zu schicken.

Ihre Erziehung mochte auch wohl vieles zu ihrem unglücklichen Zustande beigetragen haben, denn ihre alte Doktorin hatte sie von Kindheit an angesteckt, so daß sie schon im gesunden Zustande an Geistersehen, Mond- und Wörterkuren und dergleichen glaubte, und selbst mit großer Zuversicht verrichtete.

Seine Spöttereien machten sie schwermüthig, und seine kalte und gleichgültige Behandlung krank. Ich denke, das ist der Gang ihres Unglücks.

Mich dünkt doch, sie wäre zu heilen gewesen, wenn sie früh wäre besser behandelt worden; doch mußten die Arzneien das wenigste thun. Aus ihrer Verbindung herausgerissen mußte sie Umgang mit vernünftigen und aufgeklärten Leuten haben.

Aber wo ist die Welt, wo ein Arzt so etwas anordnen könnte ― und so lange der Arzt und der Menschenkenner nicht zusammen kurirt, so lange bleibt die Arzneikunst die elendeste Pfuscherei.

Fußnoten:

1: *) Die Rede ist von einem Frauenzimmer in K., die ohngefähr 25 Jahr alt war, mittlerer Statur, sehr schön, hager. Sie aß viel, war bis in ihr 23stes Jahr ganz gesund; von einer Schwärmerin erzogen, die eine berühmte Pfuscherinn in der Arzneikunst war. Dazu wollte sie dieselbe auch vorbereiten. Allein im 23sten Jahre wurde sie verheurathet an einen Mann, der derbes und gesundes Fleisch hatte, alle Schwärmerei verlachte und sie für Quaquelei hielt. Er hielt also seine Frau für eine Närrin, die affektiren wollte, und achtete auf ihr Pimpeln, wie er es nannte, wenig.