ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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I.

Ueber den Mangel unsrer Jugenderinnerungen.

Pockels, Carl Friedrich

S. 1. B. 1. St. p. 65. und 2. St. p. 82.)

Es scheint, als wenn uns die Natur recht mit Fleiß den ersten unvollkommnen Zustand unsrer Existenz habe verbergen wollen, indem sie uns unfähig machte, uns der ersten Erfahrungen unseres Lebens zu erinnern; so lehrreich es auch in der That für den menschlichen Verstand seyn würde, wenn er die Reihe unsrer nach und nach erlangten sinnlichen Begriffe, oder besser, den ersten grossen Wirrwarr derselben überschauen könnte.

Wenn wir würklich die Thätigkeit unsrer Seele mit unsern Blicken bis dahin verfolgen könnten, wo sie die allerersten Empfindungen von Gegenständen ausser sich, folglich auch von aussen her das erste Bewustseyn ihrer selbst bekam; so würden wir ohnfehlbar die wichtigsten Aufschlüße über die allererste Entwickelung unsres Geistes erhalten, die wir jetzt nun freilich nicht machen können, da wir uns aus Mangel des Erinnerungsvermögens erst [19]dann zu beobachten anfangen, wenn wir schon eine ziemliche Reise durchs menschliche Leben, und eine noch viel größere schon mit unsern Ideen gemacht haben.

Wir würden es uns alsdenn leichter erklären, wie sich der Mensch, der anfangs in Absicht seiner Fähigkeiten würklich unter dem Thier zu stehen scheint, so schnell über das Thier in kurzer Zeit erhebt; wie er die Kunst, seine Begriffe durch Zeichen aneinander zu reihen so schnell erlernte, da doch diese Kunst schon ein würkliches Nachdenken über den rechten Gebrauch der Zeichen voraussetzt; wie er zu den ersten Abstraktionen aus dem bloßen Vorrathe sinnlicher Begriffe überging, und bald einen Geschmack an Gegenständen des Geistes gewann.

So leicht es sich auch immer sagen läßt, daß wir alle menschliche Erkenntniß durch die Sinne bekommen, und daß die ersten Abstraktionen sich auf den Gebrauch der Sinne beim Kinde eben sowohl, als bei dem tiefsinnigsten Philosophen, beziehen, so wenig können wir doch das Wie ihres Entstehens bestimmen, eben weil wir uns der ersten Geschichte unsrer Ideenassociation nicht mehr erinnern können, weil wir nicht mehr wissen, welchen Grundverhältnissen unsrer Begriffe wir am meisten folgten, und welches dunkle Gefühl von Selbstinteresse die Thätigkeit unsrer Seele am leichtesten in Bewegung setzte.

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So viel sehen wir wohl ein, daß ein gewisser Wirrwarr unsrer ersten Begriffe, die Ursach von der Vergessenheit ihrer Ureindrücke seyn muß, ob ich gleich nicht leugnen will, daß jene Vergessenheit auch mit durch die erste Schwäche unsres Körpers und des Nervengebäudes, eben sowohl als durch die damals geringere Aufmerksamkeit unserer Seele befördert werden konnte.

Doch kommt es mir immer wahrscheinlicher vor, daß die erste zu große Herbeifuhre neuer Begriffe, die durch fünf Kanäle und auf einmal mitgetheilt wurden, die Kräfte unsres Gedächtnisses gleichsam überladen hat.

Es ging dem Kinde grade so, wie uns Erwachsenern, wenn wir in ein großes Naturalienkabinet geführt werden.

Wir erblicken da tausend neue Gegenstände; aber ihr Ueberfluß ist zu groß, als das wir sie alle im Gedächtniß behalten könnten.

Welches Kabinet kann wohl größer seyn, als das, in welches das Kind bei seiner Geburt geführt wird! wohin es nur seine schwachen Sinne richtet, wird es durch eine Menge neuer Objekte mehr betäubt als unterrichtet und eben dadurch der ersten Erfahrungsgeschichte seines Lebens auf immer beraubt. Doch hat die Natur, die bei den grösten scheinbaren Unordnungen, nie ihre ewigen Gesetze der Ordnung und Harmonie aus den Au-[21]gen verliert, gewiß eine sehr weise Absicht bei dem ersten Wirrwarr unsrer Begriffe gehabt.

Aus ihm entsteht das große wichtige Bedürfniß einer Sprache und die bereitwilligste Aufnahme derselben schon in der frühesten Jugend, noch vor der völligen Ausbildung unserer Sprachorgane.

Das Kind sucht sich nach und nach von einem Mischmasch seiner Ideen zu befreien und einige Deutlichkeit hineinzubringen, die seiner angebornen Kraft, Aehnlichkeiten zu bemerken, angemessen ist.

Es lernt aus einem innern Seelendrange reden, ein Geschäfte, das ihn anfangs herzlich viel Mühe kostete, daß es aber aller Schwierigkeiten ohngeachtet, die sich ihm hiebei in Weg legen, arbeitsam fortsetzte.

Durch das Reden lernt es bald deutlich denken und so entsteht ursprünglich seine Seelenthätigkeit, die sich in der Folge in die tiefsinnigsten Untersuchungen einlassen kann, aus einer anfänglichen Confusion seiner ersten Ideen.

Da wir durch die Sprache nach und nach Ordnung in unsre Gedanken bringen, und sich folglich das erste Chaos unsrer Begriffe nun mehr verliert; so müßte daraus folgen, daß wir uns von da an unserer Jugenderfahrungen zu erinnern anfangen müssen, wo wir uns deutlich auszudrücken anfingen. ―

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Und es verhält sich in der That grade so. Von der Epoche unseres Sprachgebrauches an, kommt erst einiges Licht in die Geschichte unseres Lebens.

Kein Mensch kann sich aus der Zeit vor seiner Bekanntschaft mit der Sprache, einer Begebenheit seiner Kindheit erinnern.

Doch will ich nicht läugnen, daß es ein Erinnern überhaupt an vergangene Begebenheiten des Lebens auch ohne Sprache geben kann, die Thiere selbst besitzen ohne Sprache ein Gedächtniß; aber wer weiß denn, ob nicht selbst das Thier sein Gedächtniß vermöge einer thierischen uns unbekannten mechanischen Zeichensprache besitzt, die sich durch Mittheilung besserer Sprachorgane in eine würkliche äussere Wortsprache auflösen würde.

C. F. Pockels.