ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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IV.

Einwirkung sinnlicher Gegenstände auf die Gedanken.

Bötticher, Jakob Gottlieb Isaak

Am Neujahrstage predigte ich zu Steinort. Schon während dem Gesange bemerkte ich, so oft ich auf die Zuhörer sah, eine, mir ganz ungewöhnliche, Verwirrung, auf die ich aber wenig achtete.

Kaum hatte ich den Vortrag angefangen, als mir plötzlich jeder Gedanke fehlete, und kaum konnte ich mich so viel fassen, ein Tuch aus der Tasche zu nehmen, zu räuspern und mich wieder zu sammeln.

Anfänglich hielt ich es für einen Schwindelanfall, und war, bei der Zurückkehr des ersten Bewußtseyns, schon im Begriff, mich zu setzen, als ich mich zum Fortfahren stark genug fühlte.

Dieß begegnete mir einigemal, ehe ich den Endschluß faßte, wider alle meine sonstige Gewohnheit, stets vor mich niederzusehn.

Von dieser Zeit an begegnete mir der Vorfall nicht wieder, ohngeachtet ich noch über eine Viertelstunde sprach.

Während dem Gesange nach der Predigt, suchte ich die Ursach dieser sonderbaren Begegniß und fand sie (mit dem einzigen Unterschiede, daß die Wirkung bei jedem der neuen Versuche schwächer wurde. Ein Fingerzeig, was Gewohnheit über Erdensöhne vermag, selbst wider unsern Willen; denn, aller [] [39]angewandten Mühe ohngeachtet, konnte ich die Wirkung nicht zu ihrer ersten Höhe führen) nach wiederholten Versuchen in folgendem:

Das Zimmer der Zuhörer war ganz erhellt, meines ganz dunkel; eine Zuhörerin trug ein incarnatfarben Kleid, in der Zuhörer Zimmer stand ein Bett mit carmoisinen Umhängen und, ein Paar große Spiegel reflectirten ihre Lichtstrahlen auf mich.

Die Pupillen meiner sehr guten Augen wurden, wider meinen Willen, der Dunkelheit meines Standpunkts wegen, sehr geöfnet, und alle die hohen Farben und häufigen Lichtstrahlen trafen jetzt von vorne her meine Sehnerven so stark, daß ihre Stärke jedes Gefühl und jeden Gedanken verdrängte: wie der gewiß die Flöte nicht hört, den man mit Waldhörnern in die Ohren bläst. Doch, ich darf mich hier mit Recht jeder weitern Auseinandersetzung enthalten.

Steinort den 11ten Februar 1784.

J. G. Bötticher,
Lehrer beym Grafen von Lehndorff zu Steinort
bey Rastenburg in Preussen. a

Erläuterungen:

a: Graf von Lehndorff war in zweiter Ehe mit Amalie Caroline von Schmettau (1751-1830) verheiratet und hatte drei Kinder: Carl (1770-1854), Pauline (1776-1813) und Heinrich (1777-1835). Bötticher war bis April 1784 Erzieher der beiden Söhne auf dem Lehndorffschen Stammsitz Schloss Steinort bei Angerburg (heute Sztynort) im Norden der Großen Masurischen Seenplatte in Ostpreußen. Kętrzyn (deutsch: Rastenburg) ist heute Kreisstadt in der Woiwodschaft Ermland-Masuren. Zu Lehndorffs Einschätzung von Böttichers Charakter, s. Lehndorff 1921, S. 349, 353f.