ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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X.

Sonderbarer Zustand eines nervenkranken Knaben.

Ritter, Johann Gottlieb

Aus einem Briefe aus Schlesien.

Ein Schwestersohn von mir bekam in einem Alter von etwa neun Jahren, aus Schrecken vor einer mit der Nervenkrankheit geplagten Person, selbst diese Krankheit.

Nachdem er hievon genesen, verfiel er ein Jahr drauf, mithin also etwan mit zehn Jahren in eine Art von Schlafsucht, so daß er auch bei Tage, er mochte stehn oder sitzen, unversehens einschlief, und überhaupt weit mehr Zeit schlafend als wachend zubrachte.

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Inzwischen konnte man, besonders, wenn er stehend schlief und man ihn nur hielt, damit er nicht umsinke, auch im Schlafe mit ihm sprechen, und ob er gleich die Augen, wenigstens dem Anschein nach, ganz zu hatte, so sahe und nennte er doch auf Befragen alle die Sachen, die man ihm vorhielt.

Ermunterte man ihn, so wußte er nichts von dem, was man mit ihm im Schlafe gesprochen hatte: man konnte aber von andern Sachen mit ihm sprechen: Bald schlief er wiederum ein; und dann konnte man den Faden der Unterredung, die man vorher im Schlafe mit ihn geführet, fortsetzen.

Erwachte er wieder, so wußte er abermahls nichts vom Gespräche im Schlafe, sondern nur von dem, was man vorher im Wachen mit ihm gesprochen hatte, und in dieser Art wechselte es darinn mit ihm ab, so daß es schiene, als ob er zwei Seelen, nehmlich eine für den Schlaf, und eine für die Zeit des Wachens hätte.

Dieser Zustand dauerte ein Vierteljahr. Nach Verlauf eines Jahres ließ sich wiederum die Nervenkrankheit spüren, wovon er jedoch bald wiederum durch ein Schrecken und durch einen von einem Oesterreichischen Soldaten, (denn es war zur Zeit des siebenjährigen Krieges,) erhaltenen harten Stoß mit dem Gewehr, wovon man ihn für todt aufhob, gänzlich hergestellet wurde. Jetzt ist der damalige Patient ein Kaufmann in Dessau.

Ritter.