ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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III.

Geschichte eines Selbstmords aus Verlangen seelig zu werden.

Metzger, Johann Daniel

Man hat wohl öfters Beispiele von Selbstmord aus Verzweiflung, Ueberdruß des Lebens, und ähnlichen Ursachen gesehen, aber einzig in seiner Art, und seltsam ist der Selbstmord aus übertriebener Frömmigkeit und Verlangen, seelig zu werden, wovon ich vor kurzem ein Beispiel erlebt, von welchem ich, weil ich glaube, daß es zur Beförderung der Menschenkenntniß etwas beitragen kann, den Verlauf erzählen will.

Dorothea R..in, eine hier gebürtige ledige Person von 38 bis 40 Jahren war der Herrnhutischen Brüdergemeine einverleibt, dabei kränklich, mehrentheils bettlägerig. Diese Person, welche beinahe immer einen von ihren leiblichen Brüdern oder Schwestern bei sich hatte, die ihr aus Geschwisterliebe zur Hand giengen und Gesellschaft leisteten, foderte in der Nacht vom 16ten zum 17ten May a. c a von dem bei ihr seyenden Bruder ein Messer, welches er ihr auch, nichts Arges vermuthend, zureichte, bald darauf verlangte sie auch eine Scheere, welche er ihr aber entweder auf der Stelle nicht schaffen konnte, oder nicht schaffen wollte. Kurz hernach bemerkte er, daß sie unter Zuckungen den Geist aufgab, und als er zusprang und Blut entdeckte, so fand es sich bei [29]näherer Untersuchung, daß die Verstorbene sich mit dem ihr gereichten Messer eine Wunde in den Unterleib beigebracht, und sich verblutet hatte. Die Obrigkeit, welcher der Zufall gemeldet wurde, ließ sogleich eine Obduction anstellen. Man fand eine Wunde am Unterleib vier Zoll lang von außen, drey von innen, durch welche die Gedärme hervorgedrungen waren; sie war ungleich und folglich durch wiederholtes Ansetzen des Messers verursacht. Am untersten Winkel der Wunde war die Arteria epigastrica verletzt, und daher die Verblutung entstanden.

Ein Umstand war zwar hierbei verdächtig. Der Bruder war bei der Schwester allein gewesen, und hatte, ehe die versammelten Geschwister beschlossen, die Sache pflichtmäßig anzuzeigen, das Messer ins Wasser geworfen. Er wurde daher zwar auch eingezogen, allein es mittelte sich bald aus, daß er ihr Mörder weder war, noch seyn konnte, und daß bloß das Vorurtheil, ein Selbstmord und die darauf folgende gerichtliche Untersuchung bringe Schande auf eine Familie, ihn veranlaßt, das Messer wegzuwerfen, um die Sache desto besser geheim halten zu können. In der Mine der Verstorbenen herrschte noch Ruhe und Heiterkeit des Gemüths; keine Spur irgend einer anderweitigen Gewaltthätigkeit äußerte sich an dem Körper.

Mir schien der Vorfall nicht sowohl der Tödtlichkeit der Wunde, als des Beweggrunds wegen, welcher die Verstorbene zum Selbstmord mochte ver-[30]anlaßt haben, merkwürdig. Ich gab mir daher Mühe, eine genaue Erkundigung von ihrer Gemüthsbeschaffenheit einzuziehen. Ein Tagebuch der Brüdergemeinde, welches Denksprüche aus der heiligen Schrift auf jeden Tag im Jahr enthält, fand sich aufgeschlagen nahe bei dem Bette der Verstorbenen, und der diesem Tage gewidmete Spruch konnte würklich als ein Abschied aus der Welt ausgedeutet werden, wiewohl ich mich des eigentlichen Inhalts nicht mehr erinnere. Ich wand mich an einen der Brüder, welcher mir ein Mann von gesundem, schlichtem Menschenverstand zu seyn schien; (er war es, der darauf gedrungen hatte, den Vorfall der Obrigkeit anzuzeigen) ich that die Frage an ihn, ob die Schwester wohl melancholisch gewesen, oder an ihrer Seeligkeit gezweifelt habe? Niemalen, sagte er, habe man etwas Unrichtiges in ihren Reden bemerkt, und an ihrer Seeligkeit habe sie so wenig gezweifelt, daß sie vielmehr ihm und den übrigen Geschwistern als weltlichgesinnten sehr oft die ewige Verdammniß gedroht, wenn sie nicht eben denselben Weg des Heils einschlügen, wie sie. Sie habe seine Frau veranlaßt, ebenfalls in die Brüdergemeine zu treten, welches ihm um destomehr zum Verdruß und Plage gereiche, da sie nun die Haushaltung über dem öftern Beten und Heiligung der vielen vorkommenden Feyertage vernachläßige; er habe sich aber besonders bei Lebzeiten seiner Schwester desto weniger hierüber auslassen dürfen, da ihm dieselbe jederzeit die ewige Ver-[31]dammniß angedroht, wenn er seiner Frau in ihren gottseeligen Uebungen das geringste in den Weg legte.

Wahnsinn also läßt sich bei dieser Person nicht vermuthen, wenn man nicht den aufs höchste gestiegenen Religionsenthusiasmus mit diesem Namen belegen will.

Besonders aber ist bei diesem Vorfall merkwürdig:

1) Daß der 17te des Maymonats ein großer Festtag bei der Brudergemeine ist, und daß die Verstorbene gerade den Tag erwählte, um heimzugehen, und der ewigen Seeligkeit theilhaftig zu werden. Auch bereitete sich

2) Die Verstorbene sehr feyerlich zu ihrem Tode, indem sie sehr oft, doch jedesmal nach einer langen Zwischenpause, mit immerfort gefaltenen Händen ausrief: In deine Wunden, mein Heiland ― Ja? ―ja!

So dialogirte sie im Nahmen des Heilandes mit sich selbst, der anwesende Bruder, welcher dergleichen feurige Andachten schon an ihr gewohnt war, argwöhnte nichts Bedeutendes in diesen Worten; und sah den Sinn davon erst nach Endigung des Trauerspiels ein.

3) So wahrscheinlich es ist, daß die Verstorbene mit der verlangten Scheere ihre Wunde, die ihr anfänglich vielleicht noch nicht gros genug schien, zu erweitern im Sinn hatte, so wahrscheinlich ist es auch, daß diese Wunde in der Seite des Unterlei-[32]bes eine Nachahmung der Seitenwunde des Heilandes seyn sollte, als wodurch sie demselben auch in ihrem Tode ähnlich zu werden hofte. Jedoch wenn wir auch diese Vermuthung auf ihren Werth und Unwerth beruhen lassen, so bleibt immer ein prämeditirter Selbstmord durch Frömmigkeit und Sehnsucht nach dem Heiland veranlaßt, eine sehr auffallende Begebenheit. Sie ist ein Räthsel, dessen Auflösung ich denjenigen überlasse, deren psychologisch-theologische Kenntnisse weiter gehen, als die meinigen. Für die Wahrheit der Thatsache bin ich Bürge.

J. D. Metzger,
Doct. Med. Hofrath und Kreisphysikus
in Königsberg.

Erläuterungen:

a: anni currentis: laufenden Jahres.