ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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6.

Die Hähnische Litteralmethode.

t..s..m

Bei einer öffentlichen Prüfung fragte der Lehrer nach dieser Methode:

Was ist bei der christlichen Lehre zu merken?

Antw Erstens die Benennung.

Dies wurde von einem jeden langsam und deutlich ausgesprochen, und nachdem alle fertig waren, an die Tafel gezeichnet d. B.

Zweitens die Beschreibung

welches nun eben so wie das erste von einem jeden ausgesprochen, und alsdann an die Tafel die Buchstaben d. B. s. gezeichnet wurden.

Indem nun die Kinder nach den Buchstaben auf der Tafel sahen, wurde das Ganze noch einmal durch jeden einzelnen wiederhohlt.

Nun folgte die Frage:

Welches ist die Beschreibung? (der christlichen Lehre.)

Antw Sie ist eine Sammlung —

Alle wiederhohlten dies nacheinander, und dann wurden an der Tafel die Buchstaben s. i. e. S. vorgezeichnet, und so die ganze Definition erst stückweise von allen hergesagt, die Anfangsbuchstaben jedes Worts auf die Tafel gebracht, und endlich das Ganze nochmals theilweise von allen wiederhohlt. —

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Man gab dem Lehrer zu erkennen, daß dies mehr eine Uebung des Gedächtnisses, als im Denken sey, und man sich von dem letztern auch eine Probe ausbitte. Worauf er denn die Schriftstelle Joh. 5. v. 25-29 wieder von allen von Komma zu Komma hersagen ließ, die Anfangsbuchstaben an die Tafel schrieb, und es gerade so wie vorher machte.

Auf eben die Art wurden auch die übrigen Wissenschaften vorgetragen, und dem Gedächtniß eingezwängt.

Es ist schon schlimm genug, wenn die Seele bloße Worte als Zeichen von Gedanken, ohne irgend einen Gedanken selbst, zu fassen gewöhnt wird, noch schlimmer, wenn sie sich, wie hier, sogar an einzelnen Buchstaben als Zeichen von den Zeichen der Zeichen soll begnügen lernen. Welch ein Schatten von vernünftiger Idee kann da noch wohl übrig bleiben?

Es wäre wohl der Mühe werth zu beobachten, in wie fern eine solche entsetzlich einseitige Bearbeitung einer so untergeordneten Seelenkraft, als das Gedächtniß ist, den menschlichen Verstand verrücken könne, wenn er nicht durch anderweitige zufällige Bildung noch immer aufrecht erhalten, und wieder zurecht geschoben würde?

t..s..m

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