ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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VIII.

Verschiedenheit unserer Empfindungen bei der Vorstellung vom Tode.

Jördens, Karl Heinrich

Berlin den 5ten November 1782.

Ich habe mich in den Jahren meiner ersten Jugend stets einer blühenden Gesundheit zu erfreuen gehabt. Ich wußte selbst nichts, weder von eigentlichen Krankheiten, noch andern Unpäßlichkeiten und Schmerzen des Körpers. Aber ich konnt's auch nicht begreifen, wenn andre um und neben mir über etwas klagten, oder gar sich ungebärdig stellten, wovon ich noch bisher nicht das mindeste Gefühl gehabt hatte.

Ich konnte mich nicht enthalten, alsdann meine große Verwundrung darüber zu erkennen zu geben, oder wohl gar zuweilen in ein muthwilliges Gelächter auszubrechen, wenn ich, besonders ältliche Personen, über wer weiß was alles für Stiche, Reissen in Gliedern, Hitze und Frost im Körper, oder irgend einen andern Schmerz, sich beklagen hörte.

Kurz, ich stand in dem Wahn, das sei nichts wie Einbildung der Leute. An den Tod und die verschiedenen Arten desselben unter den Menschen dacht' ich entweder gar nicht, oder wenn ich ja von aussen her daran zu denken genöthigt ward, ge-[86]schah's mit der gleichgültigsten Art von der Welt. Wohl gar die Ursach oder Beschaffenheit der mancherlei Krankheiten und Tode, auch nur wie jeder andre Mensch, kennen zu lernen, davon war keiner entfernter als ich.

Mein leichtes Blut floß ja so ruhig, so ungehemmt in seinen Adern; was sollt' ich mich um Dinge kümmern, die vielleicht meine Seele durch ein düsteres Bild, sollt' es auch nur auf wenige Augenblicke seyn, umwölkt haben würden. War mir's doch, als würd' ich den Tod, wenn er ja auch mir Visite machen wollte, durch kraftvolles Sträuben schon zum Weichen zwingen, und durch überlegene Stärke dies dürre Knochengeripp' übermeistern können.

Aber in den folgenden Jahren, wo ernsteres Nachdenken über mich selbst und das, was mir als Menschen wiederfahren konnte, an die Stelle des jugendlichen Leichtsinns zu treten anfing, hab' ich diesen Leichtsinn empfindlich genug gebüßt.

Ich hatte mir unter andern nie eine deutliche Vorstellung davon zu machen gesucht, was das heisse, vom Schlage gerührt zu werden. Ein plötzliches Ende des Lebens war alles, was ich mir dachte; der Schall des Worts schien das so mit sich zu bringen. Wie plötzlich dies Ende sei, ob[87]etwa mit Schmerz verknüpft, oder nicht, und solcherlei mehr, darnach zu fragen, war mir nie eingefallen. In den folgenden Jahren nun, wie schon gesagt, befand ich mich einstens in einer Gesellschaft, wo hintereinander von mehrern Personen erzählt ward, die vom Schlage getroffen worden. Ich hörte diesen Erzählungen jetzt zum erstenmal mit mehrerer Aufmerksamkeit zu, als bisher geschehen war, und das Bild des Todes brachte Schrecken in mein Herz! Ich ward plötzlich unruhig; ich empfand eine gewisse Bangigkeit, die ich sehnlich von mir wünschte. Es ward ein neues Beispiel erzählt, und ich fühlte eine zitternde Bewegung an meinem Körper. Jede Wiederhohlung des Wortes Schlag vermehrte meine Unruh' und Angst. Endlich faßte mich ein eiskalter Schauder.

Ich sah' mich genöthigt, mir ein Glas Wasser reichen zu lassen und trennte mich von der Gesellschaft. Mit schnellen Schritten und in entsetzlicher Unruh' ging ich nach Hause. Ich wollte nicht an die Todesart denken, die mich so mit Grausen und Beben erfüllte, und sie kettete sich nur desto fester an meine Gedanken. Ein dunkles, aber grauenvolles und fürchterliches Bild schwebte in meiner geängsteten Seele. Es deutlich zu beschreiben, würd' ich vergebens versuchen. Es glich ohngefähr einem plötzlichen sausenden und gewaltsamen Zusammenrollen, Verwirren und Wirbeln aller [88]Räder und Federn eines Uhrwerks, dessen Kette jetzt, alles äußersten Strebens, gleichsam sich der Vernichtung zu entreißen, ohngeachtet, durch eine stärkere Macht zerrissen wird, und nun auf einmal ohnmächtig still steht.

Es kam dazu, daß ich alle Augenblicke diese gewaltsame Katastrophe an mir selber zu leiden befürchtete, und schon glaubt' ich den Anfang derselben in meinem Kopf zu empfinden. Ich hatte den ganzen Abend keine Ruhe. Ach! und die Nacht, deren Dunkel mir gar den Anblick aller andern Gegenstände, die mich noch etwa hätten zerstreuen und von dem unseeligen Bilde meines Gehirns losreißen können, entzog, sie machte mich höchst elend. Gegen Morgen war ich, vermuthlich vor Abmattung, in einen festen Schlaf versunken.

Den andern Tag war mein Zustand beinahe noch eben derselbe. So wie meine Augenlieder sich öfneten, dachte meine Seele nur an das, was ihr so fürchterlich war. Kurz, das dauerte so fast ein ganzes Jahr, wiewol nicht mit der ersten Heftigkeit, und so, daß ich durch bestimmte Arbeit und andre Zerstreuung ganz ruhige Stunden erhielt. Doch oft auch während der Arbeit, wenigstens auf meiner einsamen Stube, ward ich plötzlich beunruhigt, bisweilen in schwächerm, bisweilen in stärkerm Grade.

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Ich sank dann öfters ganz ermattet zurück auf die Lehne des Stuhls; es war, als sollt' ich in den tiefsten Abgrund versinken. Die erste Hälfte der Nächte bracht' ich gewöhnlich in Unruh zu, bis endlich ein gütiger Schlaf meinen Plagegeist von mir scheuchte. Ich war zu gleicher Zeit nicht vermögend, meinen Zustand irgend jemanden zu entdecken. Ich konnte unmöglich davon reden, oder auch nur das bloße Wort Schlag aussprechen.

Es traf sich, daß einigemal in Gesellschaft, wo ich zugegen war, davon gesprochen wurde, und mich ergrif sogleich die quälendste Bangigkeit. Ich entfernte mich alsbald, und gab nur zu verstehn, man möchte meiner schonen, und nicht mehr davon sprechen, doch ohne mich im geringsten weiter zu erklären.

Endlich nach Jahres Frist wurde ich allmälig aus diesem unseeligen Zustande wieder herausgerissen. Noch muß ich bemerken, daß zu Anfange desselben überhaupt eine zu einförmige Lebensart, zu wenige Abwechslung in meinen wissenschaftlichen Beschäftigungen, und Misvergnügen über mich selbst, wenn ich in Kenntnissen nicht die Fortschritte zu machen glaubte, die ich wünschte, ferner anhaltendes Sitzen und zu wenige Bewegung in freier Luft, meinen Geist trüber und finsterer, mithin für Ausartungen der Einbildungskraft empfänglicher, gemacht, in meinem Körper aber ein schwarzes [90]Blut, die Quelle schwarzer melancholischer Bilder, gesetzt hatte.

Doch kann ich versichern, daß ich von Hypochondrie, auf die man etwa argwöhnen könnte, völlig frei gewesen. Mehrere Zerstreuung und Aufheiterung des Geistes, die ich selbst geflissentlich suchte, und die sich mir glücklicherweise jetzt auch ungesucht, mehr denn vorhin, darbot, sind wohl meine stärksten Heilungsmittel gewesen.

Sodann die Länge der Zeit, die öfters macht, daß wir uns an Dinge mit Gleichgültigkeit zu denken gewöhnen, die im Anfange für uns etwas Schreckliches hatten; endlich eigenes festes Streben, nach einiger wieder erlangter Uebermacht der vernünftigen ruhigen Betrachtung über Eindrücke der wilden Phantasie, durch genauere Betrachtung des Phantoms, dasselbe schwinden zu machen.

Jetzt kann ich schon seit geraumer Zeit nicht bloß an das, was mich vormals in meinen Gedanken so heftig erschütterte, gelassen denken; sondern auch, wie Sie, bester Freund, sehen, anstatt sonst nicht einmal das Wort aussprechen zu können, ohne die mindeste Bewegung sogar eine ganze Beschreibung meines vormaligen Zustandes machen.

K. H. Jördens,

Lehrer am Schindlerischen Waisenhause
in Berlin.