ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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I.

<Bericht.>

Ritter, Johann Gottlieb

Großglogau den 8ten May 1782.

Da ich aus einem mir vorgekommenen Avertissement ersehen, daß Beiträge zu einer Erfahrungsseelenkunde an Sie eingesendet werden können; so bin ich dadurch gereitzt worden, eines mir in meinen jüngern Jahren vorgekommenen besondern Falls gegen Sie zu erwähnen.

Als ich bald nach meiner akademischen Zeit, vor bereits einigen und dreißig Jahren, auf dem zwischen Liegnitz und Lüben gelegenen Prinz Ferdinandschen Amte Brauchitsdorf a Justitiarius war, traf ich einsmals in einem dortigen Vorwerke eine menschliche Gestalt, dem Ansehen nach von etwa zwanzig und einigen Jahren, in einem Leinwandkittel ohne Beinkleider auf der Erde an einer Wand sitzend an. Auf mein Anreden bekam ich nicht die mindeste Antwort. Ich erkundigte mich nachher nach diesem Menschen, und erfuhr, daß er des dortigen Großknechts Sohn sey, und, ob er gleich [5]vollkommen menschlich gebildet war, doch nicht den mindesten Grad von Menschenverstand, auch nicht einmal in so weit habe, daß er die nöthigen Nahrungsmittel für sich begehrte. Ich fragte weiter, ob man nicht einige Ursach angeben oder vermuthen könne, wie und woher es komme, daß dieser Mensch in solcher Verfassung sey: und man sagte mir, es könne keine andre Ursach angegeben werden, als, daß desselben Mutter, als sie mit ihm schwanger gegangen, einem in einer Clause gesessenen unsinnigen Menschen gemeiniglich das Essen habe zutragen müssen.

Ich habe mich auch noch vor kurzem bei dem jetzigen Brauchitsdorfer Prediger erkundigt, ob der beschriebene Mensch in solchen kläglichen Umständen verstorben, oder ob er nicht vielleicht vor seinem Ende noch einen Strahl von Menschenverstand bekommen; worauf ich die hier anliegende Antwort erhalten. Ich bin u.s.w.

J. A. Schönau.

Ritter,
K. Hof-, Kriminal- und Just.
Komiss. Rath.

Brauchitsdorf den 2ten May 1782.

Auf Ihr Begehren habe ich mich nach dem ehemals hier lebenden Menschen erkundiget, der ohne allen Gebrauch des Verstandes gewesen. Sowohl der Organist Metzig, der Ihnen noch erinnerlich [6]seyn muß, und der zur selbigen Zeit bereits im Amte gestanden, als auch andere Personen, welche damals zugleich in dem Vorwerk gedienet, wo gedachter Mensch gewohnet, stimmen auf mein genaues Befragen darinn überein, daß dieser Gottfried Friese, (so war sein Nahme) in der Verfassung, in welcher er bei gesunden Tagen gewesen, auch auf seinem Krankenbette, bis zu seinem Sterben verblieben, und nie zu einigem Menschenverstande gelangt sey. In seiner Krankheit hat er, wie in gesunden Tagen, sein Händeklatschen getrieben, und sein gewöhnlich Gack, Gack, ausgerufen. Niemand weiß also zu sagen, daß vor und bei seinem Sterben etwa was besonders vorgefallen, welches von einiger Veränderung seiner vorigen Umstände, und von einigem Gebrauch seiner Vernunft ein Beweiß seyn könnte. Laut unsers Kirchenbuchs ist dieser blödsinnige Friese den 16ten September 1748, in einem Alter von vierundzwanzig Jahren und neun Monathen, gestorben, also sechs Jahr vorher, ehe ich hieher ins Amt gekommen bin. Niemals soll gedachter Mensch Speise und Trank begehret haben, die Eltern haben ihm beides, wie einem kleinen Kinde, geben müssen. Ich bin u.s.w.

J. A. Schönau.

Erläuterungen:

a: Brauchitschdorf: Gemeinde im Kreis Lüben, Niederschlesien, jetzt Chróstnik in Südwest-Polen. 1728 fiel dieses Gebiet an das Preußische Königshaus. Das Gut wurde dem Bruder Friedrichs dem Großen, August Ferdinand von Preußen erteilt. Prinz Ferdinand war Offizier, 1756-1758 General der Preußischen Infanterie.