ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: I, Stück: 1 (1783) >  

<Zur Seelendiätätik.>

Moritz, Karl Philipp

Ohne zu dieser Rubrik für jetzt noch Thatsachen zu liefern, will ich es wagen, so wie bei der Seelenkrankheitskunde, einige Grundlinien eines ohngefähren Entwurfs in Ansehung der Seelendiätätik vorläufig zu entwerfen.

1) Weil der gesunde Zustand der Seele in der verhältnißmäßigen Uebereinstimmung aller Seelenfähigkeiten besteht, so muß auch das Hauptaugenmerk der Seelendiätätik seyn, nicht etwa eine einzelne, sondern alle Seelenfähigkeiten, verhältnißmäßig gegeneinander, in dem möglichst vollkommnen Zustande zu erhalten.

Sie muß folglich vorbeugen, daß nicht eine Seelenfähigkeit auf Kosten der andern, die Einbildungskraft z.B. auf Kosten der Beurtheilungskraft, die thätigen auf Kosten der vorstellenden, oder die vorstellenden auf Kosten der thätigen Kräfte, zu sehr angestrengt werden.

2) Die Seelendiätätik lehrt entweder, wie der gesunde Zustand der Seele erhalten, oder der [112]kranke Zustand derselben zum Theil gemildert oder gehoben werden kann, und in diesem letztern Falle schlägt sie in das Fach der Seelenheilkunde, wovon sie sich nur darinn unterscheidet, daß die letztre sich zur Heilung der Krankheiten der Seele reeller würkender Mittel, die erstre aber vorzüglich nur des Gesetzes der Enthaltsamkeit, in Ansehung des zweckwidrigen oder unordentlichen Gebrauchs irgend einer Seelenfähigkeit, bedient.

3) Weil jeder Mensch seinen eignen individuellen Seelengesundheitszustand hat, so setzt die Seelendiätätik eine genaue Kenntniß desselben voraus. Wer also fortdauernd glücklich zu seyn wünscht, muß sich aus sorgfältigen Beobachtungen über sich selber, nach und nach seine eigne Seelendiätätik abstrahiren, und in dieser heilsamen Wissenschaft immer vollkommner zu werden suchen.

4) Was die Nahrung für den Körper ist, das sind die täglich zuströmenden Ideen für die Seele, und so wie der erstre mit dieser oder jener Art von Nahrungsmitteln überfüllt werden kann, so kann es auch die letztre mit dieser oder jener Art von Ideen. Da nun diese aber großentheils, nach dem Standorte in der Welt, welchen sich unsre Vorstellungskraft aussucht, von unsrer eignen Wahl abhängen, so ist es nicht unwichtig für einen jeden, durch wiederhohlte Erfahrungen zu lernen, wel-[113]cher Zufluß von Ideen für ihn vorzüglich heilsam oder schädlich sey.

5) Da ohngeachtet aller Verschiedenheit die Naturen mehrerer Menschen sehr viele Aehnlichkeit miteinander haben können, so ist es vielleicht nicht unmöglich, durch wechselseitige Mittheilung unsrer Erfahrungen, einige allgemeinere diätätische Regeln für die Seele zu erfinden, welche bei jedem einzelnen Subjekt ihre gewisse Wirkung thäten.

Doch, dieß sey genug! Und je allgemeiner, unbestimmter, und schwankender dasjenige ist, was ich jetzt gesagt habe, desto besser, glaub' ich, ist es. — Als Thatsache scheint einiges aus dem Aufsatze des Herrn Jördens hieher zu gehören, welchem es gelang, durch eine glücklich gewählte Seelendiätätik, die Schreckenbilder seiner Phantasie zu verbannen, und den zerstörten Frieden, und das Gleichgewicht in seiner Seele wieder herzustellen.

M.