ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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V.

Gemüthsgeschichte Christian Gragerts eines Gensd'armes in Berlin. a

Pyl, Johann Theodor

Dieser Christian Gragert scheinet, bei einem übrigens gutem und stillem Naturell, immer etwas einfältig und leichtgläubig gewesen zu seyn. Wegen einer besondern Steifigkeit des Körpers und Ungelehrigkeit konnte er sich nicht gut mit dem Exerzieren behelfen, und mußte darüber manche Strafe leiden, welches ihm sehr nahe ging. Hiezu kamen noch dürftige Umstände, erlittene Unglücksfälle in [25]seiner kleinen Haushaltung, und gänzliche Abneigung gegen das Soldatenleben.

Darüber gerieth er endlich in eine ganz besondre, ungewohnte Aengstlichkeit, vorzüglich des Nachts, die ihn gar nicht schlafen ließ, und die er, seiner Aussage nach, bloß durch Lesen in geistlichen Büchern und Singen geistlicher Lieder, vertreiben konnte, worauf ihm immer leichter und besser ward. Indem er nun fleißig in der Bibel las, gerieth er unter andern auf den Propheten Daniel, den er nun zu seiner Lieblingslektüre machte. Und von der Zeit an entstand bei ihm die Idee von Wundern, die sich nachher seiner Einbildungskraft so sehr bemeistert hat, daß er selbst Wunder zu thun, im Stande zu seyn glaubte.

Er war nehmlich fest überzeugt, daß durch seine Macht, auf einem von ihm gepfropften Apfelbaume Kirschen wachsen würden.

Man gab ihm seinen Abschied, und er kam in das hiesige Arbeitshaus, wo er sich sehr stille, ordentlich, und fleißig betrug, und nichts vornahm, was eine Verwirrung des Verstandes vermuthen ließ. Es wurde daher beschlossen, ihn nach seiner Heimath zurückzuschicken, und der Herr Doktor Pihl untersuchte zu dem Ende den 25sten März 1781 seinen Gemüthszustand. Dieß geschahe ohngefähr zwei Jahre nachher, da er die erste Aengstlichkeit empfunden hatte.

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Er gab auf alles sehr ordentliche und passende Antworten, nur wenn es auf die Wunder kam, so blieb er bei seiner alten Meinung, vertheidigte aber dieselbe nicht hartnäckig, sondern versicherte, wenn er zu Hause käme, und fände, daß es sich nicht so verhielte, wie er gedacht hätte, so wolle er gern zugeben, daß er sich geirrt haben könnte. Auch habe er auf die Weise schon einmal einen Irrthum eingesehen, indem er eine dortige alte Frau für eine Hexe hielt, nachher aber fand, daß er ihr Unrecht gethan hatte. Endlich wünschte er nichts mehr, als zu seiner Frau und Kindern nach Hause zu kommen, wo er sich redlich nähren, friedlich leben, und keinen Menschen mehr beunruhigen wolle. Worauf der Herr Doktor Pihl sein Gutachten gab, daß dieser Mensch ohne Gefahr entlassen, und wieder in seine Heimath geschickt werden könne.

Erläuterungen:

a: Vorlage: Pyl, Gutachten vom 24. April 1781, in: Pyl 1784, S. 177-180.