ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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VI.

Geschichte des Kindermörders J. F. D. Seybell. a

Pyl, Johann Theodor

Dieser Seybell wurde vom vierten bis zum zweiundzwanzigsten Jahre im großen Waisenhause zu Potsdam erzogen, wo er das Schneiderhandwerk lernte, und war nach den Zeugniß aller, die ihn [27]kannten, von jeher ein stiller, arbeitsamer und gottesfürchtiger Mensch, dabei aber immer sehr einfältig, schüchtern, und mehr zur Traurigkeit, als zur Freude aufgelegt. Schon in seiner ersten Jugend hat er oft schleunige Anfälle von Tiefsinn, und wunderlichem Wesen geäußert, daher ihm auch die andern Knaben den Spottnahmen, der irre Seybell, beilegten.

Er war immer außerordentlich vollblütig, und zu heftigem Aufwallen, und Andrang des Bluts nach dem Kopfe geneigt, wobei sich starke Unruhe, Angst, und Bangigkeit einfand, die sich mit der Vollblütigkeit und Wallung im Blute vermehrte und verminderte, in spätern Jahren aber in eine wahre melancholische Schwermuth ausartete.

Er hatte seine Profession nicht vollkommen genug erlernet, um sich davon ernähren zu können; auch konnte er sich in seinem Dienste bei verschiednen Herrschaften nicht recht behelfen; dabei war er sich mit Unmuth seiner eignen Einfalt und Schwäche bewußt, und befürchtete beständig, daß seine Herrschaft seiner überdrüssig werden, und ihn fortjagen möchte, wo er alsdann ganz verlassen und ohne Brodt seyn würde. Aus dieser Ursach verließ er so schleunig, und ohne den geringsten ihm gegebnen Anlaß, seinen Dienst bei dem Herrn Hofrath Oeßfeld in Potsdam, wollte sich bei dem Herrn Haupt-[28]mann von Winterfeld erschießen, und stürzte sich bei dem Herrn Ordensrath Wißmann aus dem Fenster des dritten Stockwerks.

Er kam wirklich in traurige Umstände, konnte vom December 1772 bis zum Februar 1781 mit der größten Mühe, durch Nähen, kaum seinen höchst nothwendigen Unterhalt erwerben, und hatte noch einige kleine Schulden, die er gern bezahlen wollte, und doch kein Mittel, dieses zu bewerkstelligen, sahe.

Von der heftigsten innren Unruhe und Angst gefoltert, die er lange durch brünstiges Gebet zu Gott und Singen unterdrückte, aber nicht zu heben vermochte; von der grausamsten Furcht gequälet, ein unglückliches und elendes Leben führen zu müssen; seiner Schulden wegen, die freilich unbeträchtlich waren, verklagt zu werden, und sich öffentlicher Beschimpfung ausgesetzt zu sehen; und von der Einbildung hingerissen, daß seine Leiden nicht anders, als durch seinen Tod, gehoben werden könnten; kam er auf den unglücklichen Entschluß, durch den Tod eines unschuldigen Kindes, seinem qualvollen Leben und seinem Leiden ein gewisses und sichres Ende zu machen.

Er liebte dieß Kind außerordentlich, sowohl nach seinem eignen Geständniß, als nach dem Zeug-[29]niß der Eltern des Kindes, welche bezeugen, daß er immer still und gottesfürchtig gewesen sey, auch das Kind viele Gebete und schöne Sprüche aus der Bibel gelehret habe.

Eben diese große Liebe war es, die ihn einigemal abhielt, Hand an das Kind zu legen, bis ihn endlich mit einemmal der Wahnsinn in einem unglücklichen Augenblicke überwältigte, und er dasselbe in einem Anfall von rasender Wuth ermordete; nachdem er freilich vorher die Stubenthüre zugeschlossen hatte, um nicht gestört zu werden, und nachher das Kind in die Kammer trug, welches den Anschein hätte, als habe er die That verbergen wollen, wenn er nicht sogleich selbst hingegangen wäre, um sich von freien Stücken anzugeben.

Dieser Seybell hatte gemeiniglich ein rothes Gesicht, und einen scheuen, etwas starren Blick. Er war achtunddreißig Jahr alt, da er die That beging. Auf den Beweiß des Herrn Doctor Pihl, daß er die That im Wahnsinn begangen, wurde er nicht am Leben gestraft. Sein schon verstorbner Bruder ist ebenfalls einfältig und tiefsinnig gewesen.

Erläuterungen:

a: Vorlage: Pyl, Gutachten vom 24. April 1781, in: Pyl 1784, S. 161-168.