ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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III.

<Auszug aus den Kriminalacten.>

Frölich, Carl Wilhelm

Berlin den 5ten October 1782.

Ich habe Ihnen neulich versprochen, einen Auszug aus den Kriminalacten, die ich jetzt eben unter Händen habe, zu liefern, und darinn besonders dasjenige, was zu psychologischen Betrachtungen Anlaß geben könnte, aufzuzeichnen. Da ich aber weiß, daß oft dasjenige, was mir oder auch einem andern wichtig und bemerkungswerth scheinen möchte, ein dritter ganz unbedeutend finden würde, und mancher geringscheinende Umstand einer Thatsache, in Vergleichung mit einer andern, zu großen und wichtigen Betrachtungen Anlaß geben kann, so habe ich Ihnen die Handlungen des Inquisiten so nackend, wie ich sie in den Acten gefunden, hingeworfen.

Der Musquetier Friedrich Wilhelm Meyer, achtundzwanzig Jahr alt, aus Dresden gebürtig, eines Kaufmanns Sohn, lernte in seiner Jugend bei einer christlich guten Erziehung die Orangeriegärtnerkunst, und ging nach geendigten Lehrjahren, um sein Glück nun weiter zu suchen, 1737 nach Prag. Hier traf ihn nebst vielen andern Fremdlingen das Loos aufgegriffen und nach Ungarn transportirt zu werden. Er fand jedoch in der bei Molwitz 1741 vorgefallenen Schlacht Gelegenheit den Oestreichern zu entweichen, a und deren Dienste mit den preußischen, unter Anführung des [17] Prinzen Dietrichs von Anhalt-Dessau b zu verwechseln. Nicht lange nachher entwich er auch diesem, und nun faßte er den Entschluß, zu seinen Aeltern nach Dresden zurückzukehren. Ehe er noch dahin gelangte, traf ihn ein preußischer Werber in Duderstadt auf einem Kaffeehause, der ihn durch allerhand listige Wendungen, und Versprechungen einer dreijährigen Kapitulation, dahin brachte, daß er wieder in preußische Dienste trat. Er ward darauf dem hochlöblichen damaligen v. Kleistischen Regiment übersandt, c ohne daß auf die versprochene Kapitulation weiter geachtet wurde. Dieß führet Inquisit Meyer als einen Hauptgrund seiner künftigen liederlichen Lebensart an. Ausserdem, daß er sich zur Zeit, da er zum Exerciren erscheinen sollen, zum öftern betrunken und sich ganze Tage versteckt gehalten, fällt es ihm ein, seines Kameraden Sachen zu verkaufen und sich alsdann zu verbergen. In diesem Vorsatz geht er am 22sten Jänner 1743 des Morgens früh aus. Als er eben auf dem Neuköllnischenmarkte mit einer Fischerfrau wegen der gestohlnen Sachen im Handel begriffen ist, trift ihn ein Unterofficier, der ihn deshalb zur Rede stellt, und als dieser ihn zu arretiren drohet, so ergreift er die Flucht und springt auf eines Tobacksspinner Tonliers obersten Boden. Wie er hier eine Nacht gesessen hat, so versucht er herunterzusteigen, findet aber die Thür des Bodens verschlossen. Weil er nun, wie er hernach sehr oft [18]wiederholet hat, sein Leben so satt gehabt, überdem auch befürchten müssen, daß, wenn er sich wieder sehen ließe, er gleich einem Deserteur bestraft werden möchte, so entschließt er sich, weil er gehört hatte, daß ein Mensch nicht über neun Tage hungern könne, Hungers zu sterben. Vierzehn Tage nachher geht der Tobacksspinner auf seinen Boden, und findet diesen Menschen unter den Tobacksblättern ganz entkräftet liegen. Es wurden sogleich Veranstaltungen gemacht, ihn durch Suppen wieder aufzuhelfen, allein sein Magen ist so erschlafft gewesen, daß es sehr schwer gehalten hat, ihm einige Speisen aufzudringen. Auf Befragen, wie es möglich gewesen wäre, so lange zu leben, ohne das geringste von Nahrung zu sich zu nehmen? Erwiederte er: die ersten acht Tage habe ihm sehr gehungert. Zweimal habe er, um seinen Durst zu löschen, sein eigen Wasser getrunken, und einmal habe er, als es etwas geschneiet, Schnee aufgefangen, und den zu sich genommen; hernach aber sei er zu ohnmächtig geworden, als daß er noch einige von diesen Bedürfnissen habe empfinden können. Nachdem er in den gehaltenen Verhören alles, es mochte zur Milderung seiner Strafe gereichen oder nicht, gestanden, welches er auch in der Folge treulich beobachtet hat, so ward er seiner schwächlichen Gesundheitsumstände wegen, die durch das lange Hungern ganz zerrüttet waren, ins Lazareth gebracht. Hier hatte er bereits einen Mo-[19]nath zugebracht, als einige von seinen Kameraden ihm sagten, daß er seiner begangenen Verbrechen wegen schwerlich sein Leben verlieren würde, vielmehr glaubten sie, daß er Zeitlebens auf die Festung kommen möchte. Sowohl die Furcht, sein ganzes Leben hindurch zur Karre verdammt zu seyn, als auch der schon vorher geäußerte Ueberdruß seines Lebens, und das angebliche harte Verfahren der Krankenwärterin, hatten jetzt so heftig auf seine Seele gestürmt, daß er den Entschluß faßte, durch einen Mord seine Strafe zum Tode zu graviren. In dem Augenblick fiel es ihm ein, sich auf diese Art an der Krankenwärterin, die ihn geschimpft, und weswegen er besonders in dem Verhöre aufgebracht war, zugleich zu rächen. Des andern Tages frühe zog er von den im Hause befindlichen Gewehren ein Bajonet ab, und wollte die Ankunft der Krankenwärterin abwarten. Da aber diese wider ihre Gewohnheit sehr lange ausblieb, so bekennt er, er sei ungeduldig geworden, und habe den Entschluß gefaßt, diese That an seinem noch schlafenden unschuldigen Kameraden, dem Musquetier Spannagel, zu verüben. Er habe sich darauf desselben Bette gegenübergesetzt, und dem Spannagel einen Stich auf der rechten Seite und zwei auf der linken Seite der Brust beigebracht, und würde er, wie er wiederhohlentlich gestanden, den Mord [20]gewiß vollführt haben, wenn nicht die Leute aus dem Hause, welche über das Geschrei des Spannagels darzu gekommen, ihn davon abgehalten hätten. In dem nachmaligen Verhör hat er gleich alles gestanden, und sehr bereuet, daß er das Leben einer unschuldigen Person zum Opfer seines Lebensüberdrusses gemacht. Auf Befragen, wie ihm denn zumuthe gewesen, als er diese That begehn wollen? Antwortete er: »bei Verrichtung der That sei ihm angst und bange geworden. Er wolle gern sterben, man solle ihm nur Zeit zur Buße übrig lassen.«

Frölich.

Erläuterungen:

a: Mollwitz, Dorf südöstlich von Breslau. Am 10. April 1741 preußischer Sieg im Ersten Schlesischen Krieg (1740-1742).

b: Korrigiert im Druckfehlerverz., S. 116.

c: Bis 1806 wurden die preußischen Regimenter nach ihren Inhabern oder Chefs, meistens einem General oder einem Mitglied der königlichen Familie, benannt. Dieses Regiment zeichnete sich im Ersten Schlesischen Krieg (1740-1742) aus, unter der Anführung des Generals Heinrich Karl Ludwig de Herault, Seigneur de Hautcharmoy.